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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaime Manrique
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Bedeutung allzu sehr auf, musste er sich sagen lassen: »Heute bist du ein Mann, aber vergiss nicht, schon morgen kannst du ein Esel sein.«
    In der Karwoche taten die Leute Buße für all die Sünden, denen sie sich das Jahr über hingaben. Nur dann fasteten die Sevillanos und rutschten auf den Knien zur Kathedrale. Allerdings war die Kathedrale von Sevilla keineswegs düster, sondern voller Licht, Farbe, prunkvollem Zierrat aus Gold und Edelsteinen und wurde von den Öllampen und Kerzen nicht minder erleuchtet als von dem bunt schillernden Licht, das durch die Bleiglasfenster strömte. Die Kathedrale war ein Ort, an dem wir die Herrlichkeit der Welt erfuhren, und kein düsterer Bau, in dem wir für unsere Sünden büßten. Als junger Mann dachte ich mir oft, dass Gott in einem solchen Bauwerk, in dem jeder spürte, dass auch Hoffnung, Freude und Schönheit zu seinem Bund mit uns gehörten, empfänglicher für unsere Gebete sein musste. Wenn ich diese Kathedrale verließ, war ich gesättigt, als hätte ich gerade eine mariscada gegessen und mit Wein hinuntergespült.
    In jenen Tagen begleitete ich meine Mutter oft, wenn sie die Kathedrale besuchte. Die Freude, die uns das bereitete, war unser Geheimnis, von dem der Rest der Familie ausgeschlossen war und das für uns eine Zuflucht vor unserem düsteren kleinen Haus mit den schäbigen, abgenutzten Möbeln und den Lecks überall im Dach darstellte. Die prachtvollen Altäre linderten kurzzeitig den Schmerz meiner Mutter, den die Mittellosigkeit meines Vaters ihr bereitete. Musik bedeutete ihr alles. Sicher, Vater spielte zu Hause die vihuela , aber zufriedenstellen konnte er sie damit so wenig wie mit allem anderen. Nur in der Kathedrale konnte sie wirklich Musik hören. Sobald die Klänge eines Clavichords oder Spinetts den Raum füllten, begann ihr Gesicht zu leuchten, ihre Augen funkelten. Wenn Mutter sang, war sie glücklich. Ihre Stimme war zwar nicht ausgebildet, aber sehr rein und erreichte viele der hohen Noten. Zu Hause hörte ich diese Stimme nur, wenn Mutter beim Arbeiten in der Küche Romanzen sang, also dann, wenn mein Vater auf Besuch zu seinen Verwandten nach Córdoba fuhr. In der Kathedrale ließ meine Mutter ihre Stimme mit derselben Hingabe und Leidenschaft anschwellen und emporsteigen, wie ich es von den Sängern der Klagelieder in Andalusien kannte.
    Nach der Kirche steckte meine Mutter meinen Arm in ihre Ellbeuge und dann spazierten wir den Guadalquivir entlang und blieben immer wieder stehen, um die Schiffe aus fremden Ländern und die prächtigen Galeonen der Armada zu bestaunen. Eines Abends packte sie mich am Handgelenk und sagte mit flehender Stimme: »Bleib nicht in Spanien, Miguel. Geh weit fort, irgendwohin, wo du dein Glück machen kannst. In Westindien wartet eine große Zukunft auf dich, mein Sohn.«
    Sie nannte meinen Vater nicht, doch ich ahnte, dass sie mich mit diesen Worten drängte, mir ein völlig anderes Leben als das seine zu suchen. Weil ich, wie mein Vater, ein Träumer war, hatte sie Angst, dass ich, wie mein Vater, ein Tunichtgut werden würde. Langsam sah sie mich zu nichts Besserem als einem der unrealistischen Cervantes-Männer heranwachsen: Ich würde im Kreis von Gesetzesbrechern leben, ständig Freunde und Verwandte um ein paar reales anpumpen und nie begreifen, wie man es schaffte, Essen auf den Tisch zu bringen. Doch wenn ich meiner Fantasie freien Lauf ließ, würde mich der breite Strom des Guadalquivir früher oder später nach Westindien im Westen führen oder nach Italien im Osten, ins glühende Afrika im Süden oder in den Orient, jenseits von Konstantinopel, zur Pracht Arabiens mit seinen Geheimnissen und vielleicht sogar an den sagenumwobenen Hof des Kaisers von China.
    Diese Jungendträume waren gerade an der handfesten Wirklichkeit zerschellt. Am nächsten Tag kehrte Maese Pedro aus Sevilla mit der Nachricht zurück, dass der Büttel nach mir suche und eine Belohnung auf meine Ergreifung ausgesetzt habe. Damit verabschiedete ich mich von meiner Hoffnung, in die Neue Welt zu segeln.
    »Miguel«, sagte Pedro, »das Beste ist jetzt, wenn wir meinen Freund Ricardo bitten, dir bei deiner Flucht zu helfen. El cuchillo heißt er. Er ist der Anführer einer Zigeunerkarawane, die morgen in die Karpaten aufbricht. Auf dem Heimweg sind sie bislang jedes Jahr durch Italien gezogen. Mach dich fertig; sobald es dunkel wird, gehen wir zu ihm. Feilsche nicht um den Preis, den er verlangt, dann bringt er dich sicher nach

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