Die leise Stimme des Todes (German Edition)
geheiratet. Katherine vermutete, dass die Beziehung schon geraume Zeit existiert hatte, und das konnte sie ihm nicht verzeihen. Sie hatte ihre Mutter abgöttisch geliebt und obwohl sie nicht wusste, was im Lauf der Ehe ihrer Eltern geschehen war, und die Tatsache akzeptierte, dass sie sich auseinander gelebt hatten, schmerzte die Erinnerung an seinen Verrat noch immer.
„Was willst du?“
„Mit dir sprechen.“
„Gut! Also reden wir.“ Ihre Stimme klang selbst für sie übertrieben abweisend.
„Warum bist du so zu mir?“
„Du kennst den Grund. Darüber müssen wir bestimmt nicht sprechen!“
„Es ist Jahre her. Kannst du die Vergangenheit nicht ruhen lassen?“
„Nein!“
„Wir sind eine Familie. Im Grunde haben wir nur noch uns.“
Katherine lachte bitter. „Was ist mit Constanze? Zählt sie plötzlich nicht mehr?“
Seine Stimme wurde leise, so dass sie kaum noch zu hören war. „Du weißt, was ich meine.“
Ja, sie wusste, was er meinte. Trotzdem konnte sie ihm nicht verzeihen. Katherine hatte sich zur Rächerin ihrer verstorbenen Mutter aufgeschwungen; ihr Vater sollte ebenso leiden, wie sie selbst und ihre Mutter gelitten hatten.
„Gibt es noch etwas anderes?“
„Ja.“
„Was?“
„In wenigen Tagen habe ich Geburtstag. Wirst du kommen?“
„Nein.“
„Constanze ist auf Tournee. Wir wären allein und könnten über alles reden.“
„Das tun wir schon seit Jahren. Es führt zu nichts.“
„Aber wir sollten es dennoch versuchen.“
„Da bin ich anderer Meinung.“
Sie schmetterte den Hörer hart auf die Ladestation des Telefons. Es klang wie ein Pistolenschuss.
Dann ließ sie sich auf das Sofa fallen, verbarg ihr Gesicht zwischen den weichen Kissen und weinte, nicht zum ersten Mal, um ihre tote Mutter und ihren verlorenen Vater.
4. Kapitel
Am nächsten Tag fühlte sich Katherine erschöpft. Die ganze Nacht hatte sie sich ohne Schlaf zu finden im Bett hin und her gewälzt und über Manfred Weber, ihren Vater und ihre verstorbene Mutter nachgedacht. Sie hatte Make-up aufgelegt, um die Spuren der Nacht zu überdecken, aber als sie in den Spiegel des Waschraums, der sich neben ihrem Büro befand, schaute, musste sie feststellen, es hatte nicht geholfen. Gott sei Dank war heute keine Operation angesetzt, denn in diesem Zustand fühlte sie sich nicht sicher genug, ein Skalpell zu führen.
Katherine verließ den Waschraum und wollte in ihr Büro gehen, um den allgegenwärtigen Papierkram aufzuarbeiten, als sie ihrem Vorgesetzten und Mentor, Professor Klaus Reuben, über den Weg lief. Mit wippendem, energiegeladenen Gang kam er auf sie zu. Katherine wäre ihm an diesem Morgen gern aus dem Weg gegangen, aber dafür war es zu spät.
„Hallo, Katherine“, begrüßte er sie lächelnd. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht, und das Lächeln verschwand. „Um Himmels willen, wie siehst du denn aus?“
Wenn Reuben nicht lächelte, wirkte er wie ein Hund, der seinen Herrn verloren hat und einsam und verlassen auf dessen Rückkehr wartet. Er war mittelgroß, schlank und sportlich, mit der gesunden Bräune eines Menschen, der Sport an der frischen Luft trieb. Sein graues Haar war noch immer voll und ordentlich frisiert, und ließ ihn zehn Jahr jünger wirken, als er in Wirklichkeit war. Er hatte eine fleischige Nase, abstehende Ohren, die ihm einen jungenhaften Zug gaben, und blendend weiße Zähne. Aber faszinierend war sein ständig wechselndes Mienenspiel, das ein breites Spektrum umfasste und alle seine Gefühle verriet, bevor er nur ein Wort sagte.
Katherine mochte ihn. Sie wusste, dass Reuben so etwas wie eine Vaterrolle für sie einnahm. Von Anfang an hatte er sie unterstützt, ihr mit Ratschlägen zur Seite gestanden und ihr erklärt, wie ein Krankenhaus funktionierte. Katherine, die ehrgeizig war, hatte lernen müssen, dass zu einem beruflichen Aufstieg zur Chirurgin nicht nur die Fähigkeiten einer ausgezeichneten Ärztin, sondern auch Politik gehörte. Kompromisse schließen, Beziehungen knüpfen, das Abwägen der unterschiedlichen Interessen, gehörten ebenso dazu wie der geschickte Umgang mit einem Skalpell. Dafür war sie ihm dankbar. Als sie ihre Stelle im Klinikum antrat, hatte sie sich verloren und überfordert gefühlt, aber dank Reubens Hilfe konnte sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren und wurde nicht mehr ständig von Selbstzweifeln geplagt. Außerdem war der zweiundfünfzigjährige Professor inzwischen zu einem guten Freund geworden, und Freunde
Weitere Kostenlose Bücher