Die letzte Chance - Final Jeopardy
die Tränen laufen, während ich mit mir rang, ob ich die Anrufe jetzt oder später abspielen sollte.
Später. Wenigstens zwei Drinks später.
Ich ruhte mich für ein paar Minuten aus, dann raffte ich mich auf, schaltete das Licht an, zog die Strumpfhose aus und drapierte mein Kostüm über den Lenker des Hometrainers. In Leggins und T-Shirt fühlte ich mich gleich viel wohler. Dann wusch ich mir das Gesicht und besprühte mich mit etwas Chanel 22, bevor ich zu meinem Babysitter ins Arbeitszimmer ging. Irgend etwas mußte an meinen Lieblingsparfüms sein, das mich immer beruhigte, und eine solche Beruhigung war mehr als überfällig.
Mike schaltete den Ton am Fernseher ab, als ich das Zimmer betrat, überreichte mir meinen Drink und wartete, bis ich mich in meinen Sessel gekuschelt hatte, bevor er sich erkundigte, ob ich mit ihm noch über den Fall reden wollte.
»Gibt es denn noch etwas, worüber wir heute abend unbedingt reden müssen?«
»Nein«, erwiderte er. »Es läßt mich eben einfach nicht los. Du weißt ja genausogut wie ich, daß die meisten Morde absolut zufällig geschehen. Ich meine, wenn sie sich nicht im Familienkreis ereignen oder etwas mit Drogen zu tun haben, dann gibt es absolut keine Verbindung zwischen Täter und Opfer. Selbst der beste Cop der Welt könnte sein Leben lang an einem Fall verbringen und ihn niemals lösen, wenn nicht irgend jemand auf dem Revier erscheint und ein Geständnis ablegt. Bei einer Schießerei im Freien wie hier gibt es keine Fingerabdrücke, keine DNS, keine Anhaltspunkte. Vielleicht war es auch bloß ein Jäger, der herumgeballert hat, und Isabella befand sich zur falschen Zeit am falschen Ort. Auf diese Weise erwischt es die meisten Opfer - durch schlechtes Timing.«
»Wir haben aber keine Jagdsaison, Mike.«
»Du weißt genau, wovon ich rede. Also machen wir Schluß - du hast recht. In einer Viertelstunde ist das Essen da. Und dann werd’ ich dir bis morgen früh von der Pelle rücken.«
»Darauf möchte ich trinken. Cheers!«
Bis die Pizza kam, sahen wir uns CNN an - Bürgerkriege in der dritten Welt waren im allgemeinen eine Abwechslung nach einem Tag im Gerichtsgebäude -, dann begaben wir uns an den Eßtisch, um zu essen und unseren zweiten Drink einzunehmen.
»Weißt du noch, was du gesagt hast, als wir heute abend hier reinkamen - daß dein Vater meint, du wärst schon zu lange dabei? War das ein Scherz, Alex?«
»Nein, aber das würde auch nichts daran ändern. Du weißt, was mir mein Job bedeutet. Es ist nur so, daß niemand in meiner Familie - niemand in meinem ganzen Leben - diese Faszination versteht. Es ist nicht ganz das, was sie sich für ihr Kind vorgestellt haben.«
Ich war in einem geruhsamen Vorort nördlich von Manhattan aufgewachsen, als drittes Kind - und einzige Tochter - meiner Eltern, die ganz altmodisch und rückhaltlos nur füreinander und für ihre Familie lebten. Die Eltern meines Vaters waren russische Juden, die in den zwanziger Jahren mit seinen beiden Brüdern eingewandert waren; er und seine Schwester waren in New York geboren worden. Meine Mutter hatte einen völlig anderen Background.
Ihre Großeltern waren um die Jahrhundertwende aus Finnland gekommen und hatten sich auf einer Farm in New England niedergelassen, wo sie so lebten wie ehedem in Skandinavien, die primitive Holzhütte mit Sauna am Rande eines eiskalten Sees inklusive.
Meine Mutter und mein Vater lernten sich kennen, als er frischgebackener Assistenzarzt war und sie noch aufs College ging und beide eines Abends in ein tragisches Unglück verwickelt wurden. Der berühmteste Nachtclub Manhattans in den fünfziger Jahren - das Montparnasse - war wegen seiner Kombination aus schickem Publikum und erstklassigem Jazz eine Hauptattraktion. An einem Abend im November war meine Mutter mit einem Freund da, während mein Vater sich mit drei seiner Kumpels, die gerade am Krankenhaus ihre Schicht beendet hatten, um Einlaß bemühte. Da brach in der Küche Feuer aus, im Nu stand der vollbesetzte Club in Flammen. Damasttischtücher, Chiffonkleider und Seidenschals boten den Flammen reichlich Nahrung. Die vier jungen Ärzte verwandelten den Bürgersteig in der Park Avenue in eine Behelfsunfallstation, ließen den fliehenden Geschäftsführern und Künstlern, der Schickeria und der Belegschaft Erste Hilfe angedeihen, als die Menschen einander niedertrampelten, während sie dem furchtbaren Inferno zu entkommen suchten.
Mein Vater verbrachte den Rest der Nacht damit,
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