Die letzte Chance - Final Jeopardy
zitterte am ganzen Leib und redete mir ein, dies käme davon, daß ich so spät aus dem Bad gestiegen wäre, und nicht wegen der gespenstischen Stille in der Telefonleitung. Ich deckte mich zu und konzentrierte mich auf die hoffnungslose Aufgabe, ein paar Stunden zu schlafen, bevor ich losziehen würde, um zu sehen, wie meine geliebte Vineyard-Straße in den Schauplatz eines Mordes verwandelt worden war.
7
M ike kreuzte pünktlich auf und hatte für uns beide je einen Becher schwarzen Kaffee dabei. Wir sind beide ausgesprochene Morgenmuffel, und daher schwiegen wir auf der kurzen Fahrt nach La Guardia. Er parkte seinen Wagen vor dem Gebäude der Flughafenpolizei, und die Cops setzten uns am alten Marine Air Terminal ab, von dem die DeltaShuttle-Flüge abgehen.
Da mein Leibwächter ausgerechnet vorm Fliegen Angst hatte, war er zusätzlich ein wenig gedrückter Stimmung. Es erstaunte mich immer wieder, daß ein Mann, der so wenig Angst hatte vor mordgierigen Wahnsinnigen und blutrünstigen Drogenbaronen, sich vor einer Flugreise fürchtete, aber wir waren schon zusammen wegen Auslieferungsverhandlungen nach Chicago und Miami geflogen, und daher wußte ich, daß Mike kein Sterbenswörtchen von sich geben würde, bis wir wieder sicheren Boden unter den Füßen hatten. Die Chance, daß ein Detective der New Yorker Polizei bei einem Schußwechsel auf einer Straße in Washington Heights umkam, war weit größer als die, bei einem Flugzeugabsturz zu sterben, aber jeder von uns hat seine eigenen Dämonen, und ich wollte mich nicht mit seinen anlegen. Der Jet hob an diesem wolkenlosen Morgen rasch von der Rollbahn dreiunddreißig ab. Der Kopilot empfahl den Passagieren auf der rechten Seite des Flugzeugs, den atemberaubenden Anblick der Skyline von Manhattan an diesem klaren Tag zu genießen, aber Mikes Blick war auf den Anblick von irgend etwas links unter uns fixiert.
»Es gibt nur eins, was mich mit einem Abflug von La Guardia versöhnt«, bemerkte er. »Wenn wir hier runtergehen, dann sind die Chancen gut, daß wir uns über ganz Riker’s Island verteilen und ich ein paar von diesen Drecksäcken in die ewigen Jagdgründe mitnehme.«
»Was für ein großmütiger Gedanke.« Auf Riker’s Island - anderthalb Quadratkilometer Klärschlamm im East River genau gegenüber den verlängerten Rollbahnen - sind die meisten
Strafgefangenen New Yorks untergebracht. Es ist zwar nicht ganz mit Alcatraz zu vergleichen, aber die starken Strömungen vereiteln eine Flucht auf dem Wasserweg weitgehend, und im Unterschied zu The Tombs gibt es hier auch verurteilte Strafgefangene.
Während wir über den Long Island Sound hinwegflogen, versuchte ich Mike abzulenken, indem ich ihm von Martha’s Vineyard erzählte. »Es liegt nicht nur an der Schönheit der Strände, daß die Insel in den Sommerferien so beliebt ist, sondern sie ist auch ein wirklich ungewöhnlicher Ort mit einer faszinierenden Geschichte.«
Ich fuhr nun schon seit so vielen Jahren auf die Insel, daß ich erst ein wenig überlegen mußte, welche Dinge ich zu meiner Überraschung auf diesen ersten Reisen erfahren hatte. »Vineyard ist in West-Ost-Richtung etwa 35 Kilometer und in Nord-Süd-Richtung etwa 16 Kilometer lang - es ist die größte Insel in New England -, aber ihre Topographie ist unglaublich vielfältig, ganz anders als auf Long Island oder Nantucket. Es gibt sechs kleinere Städte, und jede ist in ihrer Art ganz eigenständig.«
»Leben dort das ganze Jahr über Menschen?«
»Na klar, aber es sind vermutlich höchstens 15 000 Insulaner. Doch wenn die >Sommerleute< und Feriengäste einfallen, schwillt die Bevölkerung auf nahezu 80 000 an.«
Ich erklärte Mike, daß die Insel 1642 von den Engländern besiedelt worden war und dem Duke of York unterstanden hatte - daher liegt sie heute auch im Dukes County. In den ersten fünfzig Jahren gehörte sie eigentlich zum Staat New York - wie die Counties Kings, Queens und Dutchess -, dann wurde sie Massachusetts zugeschlagen, das nur sieben Meilen auf der anderen Seite des Vineyard Sound liegt.
»Wie kommt es denn, daß sich die Kleinstädte auf ein und derselben Insel so voneinander unterscheiden?«
»Aus zwei Gründen«, erwiderte ich. »Der eine ist schlicht die topographische Vielfalt. Da gibt es großartige natürliche Häfen, von denen vor Jahrhunderten die amerikanische Walfangindustrie ihren Ausgang nahm, große geschützte Wälder in der Mitte der Insel, Hügelketten, die für die Schafzucht geeignet
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