Die letzte Delikatesse
…
Venus
Rue de Grenelle, Arbeitszimmer
Ich bin eine primitive Venus, eine kleine Fruchtbarkeitsgöttin mit nacktem Alabasterleib, breiten, ausladenden Hüften, einem vorstehenden Bauch und Hängebrüsten, die bis auf meine in einer etwas drollig schüchternen Haltung gegeneinandergepreßten, prallen Schenkel fallen. Eher Frau als Gazelle: Alles an mir fordert die Sinne heraus, nicht die Betrachtung. Und doch betrachtet er mich, betrachtet mich unaufhörlich, sobald er von seinem Blatt aufschaut, sobald er über etwas nachsinnt und, ohne mich zu sehen, seinen düsteren Blick auf mir ruhen läßt. Manchmal sieht er mich aber auch forschend und nachdenklich an, versucht, die Seele dieser reglosen Skulptur zu ergründen, ich spüre genau, daß er ganz nahe daran ist, eine Verbindung herzustellen, zu erraten, ein Zwiegespräch zu führen, und dann gibt er unvermittelt auf, und ich habe das unerträgliche Gefühl, dem Schauspiel eines Mannes beigewohnt zu haben, der sich in einem Einwegspiegel anschaut und nicht ahnt, daß ihn dahinter jemand beobachtet. Dann wieder berührt er mich leicht mit den Fingern, betastet die Falten meines voll erblühten Frauenkörpers, fährt mit den Handflächen über mein flaches, ausdrucksloses Gesicht, und ich spüre auf der Oberfläche meines Elfenbeins das Fluidum eines ungezähmten Wilden. Wenn er sich an seinen Arbeitstisch setzt, an der Kordel der großen Kupferlampe zieht und sich ein warmer Lichtstrahl über meine Schultern ergießt, tauche ich aus dem Nichts wieder auf, ich erwache jedesmal neu zum Leben durch dieses Licht des Demiurgen, und so sind für ihn auch die Geschöpfe aus Fleisch und Blut, die seinen Lebensweg kreuzen, aus seinem Gedächtnis getilgt, wenn er ihnen den Rücken kehrt, und auf eine ihm unverständliche Art präsent, wenn sie wieder in den Bereich seiner Wahrnehmung rücken. Auch sie schaut er an, ohne sie zu sehen, er nimmt sie im Dunkeln wahr, wie ein Blinder, der vor sich hertastet und sich einbildet, etwas zu fassen, während er nur nach einer Luftblase greift, nur das Nichts umfängt. Seine scharfen, intelligenten Augen sind von dem, was sie sehen, durch einen unsichtbaren Schleier getrennt, der sein Urteilsvermögen behindert, der undeutlich werden läßt, was er mit seinem sprühenden Geist doch so leicht erhellen könnte. Und dieser Schleier ist nichts anderes als die Starrheit des hoffnungslos verbissenen Autokraten in seiner beständigen Angst, sein Gegenüber entpuppe sich als etwas anderes als ein Gegenstand, den er nach Belieben aus seinem Blickfeld entfernen könne, in der beständigen Angst gleichzeitig, der andere sei kein freier Geist, der den seinen anerkenne …
Während er mich sucht, ohne mich je zu finden, während er schließlich resigniert die Augen senkt oder nach der Kordel greift, um die Gewißheit meiner Existenz auszulöschen, flieht er, flieht, flieht das Unerträgliche. Seine Sehnsucht nach dem anderen, seine Angst vor dem anderen.
Stirb, alter Mann. In diesem Leben gibt es weder Frieden noch Platz für dich.
Der Hund
Rue de Crenelle, Zimmer
Zu Beginn unserer Kameradschaft war ich immer wieder fasziniert von der unbestreitbaren Eleganz, mit der er sein Hinterteil auf dem Boden aufsetzte; solid auf seine Hinterläufe gestützt, mit dem Schwanz regelmäßig wie ein Metronom dicht über den Boden wedelnd, seinen unbehaarten, kleinen rosa Bauch unter der flaumigen Brust voller Falten, setzte er sich kraftvoll nieder und blickte mit seinen Haselnußaugen zu mir hoch, in denen ich so oft etwas anderes als nur gerade Freßlust zu sehen meinte.
Ich hatte einen Hund. Oder vielmehr eine Nase auf Pfoten. Ein kleines Sammelbecken menschlicher Projektionen. Einen treuen Kameraden. Einen Schwanz, der im Takt seiner Emotionen wedelte. Ein aufgeregtes Känguruh in seinen guten Stunden. Einen Hund also. Als er ins Haus gekommen war, hätte seine faltige Molligkeit leicht zu alberner Rührseligkeit verleiten können; doch innerhalb weniger Wochen war aus der fleischigen Kugel ein ranker kleiner Hund mit fein geformter Schnauze, klaren, leuchtenden Augen, einer unternehmungslustigen Nase, kräftiger Brust und muskulösen Pfoten geworden. Es war ein Dalmatiner, und ich hatte ihn Rhett genannt als Huldigung an Vom Winde verweht, meinen Lieblingsfilm, denn wenn ich eine Frau gewesen wäre, hätte ich Scarlett sein wollen – diejenige, die in einer untergehenden Welt überlebt. Sein blütenweißes Fell, fein säuberlich schwarz
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