Die letzte Delikatesse
genau. Aber Sie erklären hier Talent mit Ungerechtigkeit, die Begabung unserer Großmütter mit ihrem Status als Unterdrückte, während es doch sehr wohl große Köche gab, die weder an einer gesellschaftlichen Minderwertigkeit noch an einem Leben litten, dem es an Prestige oder Macht fehlte. Wie bringen Sie das in Einklang mit Ihrer Theorie?«
»Kein Koch kocht wie unsere Großmütter, keiner hat je wie sie gekocht. All das, was wir hier anführen« (und ich betone leicht das »Wir«, um deutlich zu machen, daß jetzt ich zelebriere), »hat diese so spezifische Küche hervorgebracht, die Küche der Frauen im Haus, in der Abgeschlossenheit ihres Heims: eine Küche, der es bisweilen an Raffinesse mangelt, die immer diesen leichten ›familiären‹ Zug aufweist, das heißt gehaltvoll und nahrhaft ist, dazu geschaffen, ›im Bauch zu halten‹ – die aber im Grunde und vor allem anderen von einer glühenden Sinnlichkeit ist, was erklärt, weshalb wir beim Wort ›Fleisch‹ gleichermaßen an Gaumenfreuden wie an Liebesfreuden denken. Ihre Küche, das waren ihre weiblichen Reize, ihr Charme, ihre Verführungskunst – darin fand sie ihre Inspiration, dadurch wurde sie einzigartig.«
Er lächelt mir erneut zu. Und vor den betretenen Epigonen, die völlig niedergeschmettert sind, weil sie nicht begreifen, nicht begreifen können, daß sie, die Balancekünstler der Gastronomie, die zu Ehren der Eßgöttin ihre Tempel errichtet haben, von einem armseligen jungen Köter ausgestochen werden, der in seiner verdutzten Schnauze einen ganz nackten, ganz gelben, abgenagten alten Knochen bringt – vor dieser tiefbetrübten Gesellschaft also sagt er zu mir: »Würden Sie mir das Vergnügen machen, morgen mittag mit mir bei Lessière zu speisen, damit wir dieses spannende Gespräch in aller Ruhe weiterführen können?«
Ich habe vorhin Anna angerufen, und mir ist klar geworden, daß ich nicht hingehen werde. Nicht mehr. Nie mehr. So geht ein Epos zu Ende, das Epos meiner Lehrzeit, die wie in den Entwicklungsromanen vom Entzücken zu den Ambitionen, von den Ambitionen zu den Enttäuschungen und von den Enttäuschungen zum Zynismus geführt hat. Aus dem ein bißchen scheuen, sehr aufrichtigen jungen Mann, der ich war, ist ein einflußreicher, gefürchteter, angesehener Kritiker geworden, der von der besten Schule kommt und in die besten Kreise Eingang gefunden hat, sich aber von Tag zu Tag und vorzeitig immer älter fühlt, immer müder, immer unnützer: ein geschwätziger, galliger Greis, der bis zum Überdruß ein besseres Selbst beschwört, das unerbittlich zerbröckelt und ihm ein Alter als klarblickender, erbärmlicher Trottel verheißt. Ist es das, was er jetzt empfindet? War es das, was unter seine ein wenig matten Lider kaum sichtbar einen Hauch Traurigkeit, einen Anflug von Nostalgie sickern ließ? Bin ich dabei, in seine Fußstapfen zu treten, dieselbe Reue zu erleben, denselben Irrwegen zu folgen? Oder bin ich erst am Punkt angelangt, wo ich mein eigenes Schicksal beklage, weit, weit entfernt vom Glanz seiner inneren Reisen? Ich werde es nie wissen. Der König ist tot. Es lebe der König.
Der Fisch
Rue de Grenelle, Zimmer
Jeden Sommer fuhren wir in die Bretagne. Es war noch zu der Zeit, als die Schule erst Mitte September wieder begann; meine Großeltern, die unlängst zu Geld gekommen waren, mieteten jeweils zum Ende der Saison an der Küste ein geräumiges Haus, wo die ganze Familie zusammenkam. Es war eine wunderbare Zeit. Ich war noch nicht alt genug, um gebührend schätzen zu können, daß diese einfachen Leute, die ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet hatten und erst in späten Jahren vom Schicksal begünstigt worden waren, beschlossen hatten, mit ihren nächsten Angehörigen zu Lebzeiten das Geld auszugeben, das andere unter ihrer Wollmatratze aufbewahrt hätten. Ich wußte hingegen schon, daß wir, die Kleinen, mit einer Klugheit umsorgt wurden, die mich immer noch verblüfft, mich, der ich meine eigenen Kinder nichts als verwöhnt habe – verwöhnt auf verderblichste Art und Weise. Ich habe sie verfaulen und verrotten lassen, diese drei faden, dem Schoß meiner Frau entsprungenen Geschöpfe, Geschenke, die ich ihr nachlässig gemacht hatte als Gegenleistung für ihre Selbstverleugnung einer dekorativen Gattin – entsetzliche Geschenke, wenn ich es heute bedenke, denn was sind Kinder anderes als die monströsen Auswüchse unserer selbst, ein erbärmlicher Ersatz für unsere nicht
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