Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
machen. Das Ganze war wie eine Filmszene, dachte sie versponnen, als kämen Südseeinsulaner herbei, um einem Navy-Schiff Muscheln anzubieten.
Aber die Geschäfte, die hier getätigt wurden, hatten nichts Niedliches an sich. Auf beiden Seiten ging es ums nackte
Überleben. Die Arche brauchte die Produkte dieser texasgroßen Abfallinsel. Seit Nepal hatte sie keinen Hafen mehr anlaufen dürfen; sie hatte sich ausschließlich auf ihre internen Ressourcen und die Erzeugnisse des Meeres stützen müssen. Die Anlagen zur Gewinnung von Meeresbeton und Magnesium arbeiteten noch, wenn auch mit Müh und Not. Mit den Betonplatten wurden Schäden am Rumpf geflickt und Trennwände im Schiff gebaut oder repariert. Aber es gab keinen Ersatz für Kunststoff und diverse Metalle wie Aluminium, Stahl oder Eisen. Darum blieb der prächtigen Arche nichts anderes übrig, als Frischwasser, Meeresbeton, Brillengläser oder einen Besuch bei den Zahnärzten des Schiffes gegen zur Wiederverwertung gesammelte Fischernetze voller Kunststoff und Säcke voller Styroporstücke einzutauschen.
Außerdem herrschte seit Nepal eine schreckliche Stimmung auf dem Schiff. Lammockson hatte versucht, nichts über die Geschehnisse in Tibet verlauten zu lassen, aber die Informationen waren natürlich zur Besatzung der Arche durchgedrungen. Es war eine Konfrontation mit dem Albtraum, der die meisten intelligenten Erwachsenen seit dem Beginn der Flut plagte: das extreme Ende, das womöglich auf sie alle zukam. Die Begegnung in Tibet hatte Lammocksons Pläne zunichte gemacht. Zwar war die Arche heil von Nepal weggekommen, aber ohne Ziel wurde die Reise sinnlos.
Auf dem immer größer werdenden Weltmeer galt es, neue Gefahren zu bestehen. Gewaltige Methanrülpser aus dem schmelzenden Permafrost konnten zischende Clathrat-Brocken an die Oberfläche schicken und die Luft mit einem giftigen Gestank erfüllen, der tödlich war, wenn er zu stark
wurde; manchmal erzeugten sie sogar Abwärtsströmungen, die ein Schiff versenken konnten. Und das immer höhere Gewicht des Wassers, das auf dem überschwemmten Land lag, erzeugte Erdbeben und gewaltige Landrutsche, die ihrerseits Tsunamis und Strudel auslösten, deren Wirkung umso stärker war, wenn man zufällig irgendwo in der Nähe der alten, versunkenen Kontinente trieb.
An der Spitze der Befehlsstruktur der Arche waren die Beziehungen nahezu völlig zerrüttet; Lammockson, Hammond und Juan Villegas hatten sich in einem Dreieck gegenseitigen Abscheus verfangen. Es war typisch für Lammockson gewesen, dass er nicht das Nächstliegende getan und Villegas nach seiner versuchten Meuterei in Nepal über Bord geworfen hatte. Er schien Verrat als Herausforderung, nicht als Endpunkt einer Beziehung zu betrachten. Villegas blieb am Leben und behielt seinen Job, zweifellos nach einer unausgesprochenen privaten Demütigung. Aber Lily hatte seither nicht mehr erlebt, dass Villegas und Lammockson auch nur ein einziges Gespräch miteinander geführt hätten, abgesehen von formellen Wortwechseln auf der Brücke oder bei den Sitzungen des Besatzungsparlaments.
Sie war zu der Ansicht gelangt, dass die Arche ein klassisches Beispiel für die Fehler in Lammocksons Denkweise war. Er folgte stets seiner Vision und seinen grandiosen Impulsen, schaffte es jedoch nicht, ein Projekt bis zum Ende zu durchdenken. Das Schiff war nicht in jener modularen Weise konstruiert worden, die wichtige Systeme mehrfach parallel ausgelegt und es dadurch vielleicht wirklich auf Jahre oder Jahrzehnte hinaus autark gemacht hätte. Besessen von seinem Zivilisierungstraum, hatte sich Lammockson auf Stil
und Aussehen konzentriert und die Funktion sich selbst überlassen. Und hier hatten sie nun das Ergebnis, diesen lächerlichen Klon der Queen Mary , der turmhoch über die von einem Abfallmeer lebenden Flöße aufragte, sich stetig selbst verzehrte, um am Leben zu bleiben, wie ein verhungernder Körper, der seine eigenen inneren Organe verstoffwechselte.
Und während die Welt immer gefährlicher wurde, korrodierten nicht nur das Gefüge und Material des Schiffes, sondern auch die Moral derjenigen, die sich an Bord zusammendrängten, umgeben von Schäbigkeit, Gefahr und dem unendlichen Meer.
Ein salziger Wind zerzauste Lily die Haare. Sie sah nach Norden, zu dem Sturm, einem brütenden Band über dem Horizont. Wurde dieses Wolkenband dicker? Denn wenn es so war …
Ihr Telefon klingelte. Sie fischte es mühsam aus dem Kälteschutzanzug und klappte es auf.
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