Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
erkennen konnte.
Lammockson kam nicht zum Floß zurück. Lily saß einfach da und hielt Piers’ Kopf. Es war eine wolkenlose, mondlose Nacht. Myriaden von Sternen prangten an einem Himmel, der von der Verschmutzung durch die Menschheit weitgehend reingewaschen war. Lily hatte Jahre auf einem Schiff auf See verbracht, aber selbst sie hatte die Sterne noch nie so gesehen, denn auf der Arche blendete einen immer das eine oder andere Licht in der Nähe.
Um das Floß herum herrschte Stille, nur unterbrochen vom sanften Plätschern der Wellen, einem Stimmengemurmel, einem fernen Schluchzen. Es war eine Nacht zum Ausruhen, eine Nacht, von der viele zweifellos wünschten, sie würde niemals enden, denn morgen würde ein neuer Kampf beginnen. Aber im Augenblick war alles still.
Piers erwachte noch einmal, im Dunkeln. »Hast du es?«
»Was denn, Piers?«
»Für mein Gesicht. Du weißt schon. Falls sie zurückkommen.« Er versuchte, sich zu bewegen, seine Hände hoben sich schwach. »Es muss auf den Boden gefallen sein.«
»Dein Handtuch?«
»Hast du’s?«
Kristie hatte ein Tuch um den Hals, mit dem sie sich vor der Sonne schützte. Sie nahm es ab und gab es Lily. Die glättete es und legte es Piers auf das Gesicht. Er seufzte und lag still.
93
SEPTEMBER 2043
Kristie starb.
Es lag an etwas, das sie gegessen hatte, etwas aus dem Meer, das nicht so vertraut war, wie es den Anschein gehabt hatte - eine übliche Todesart auf den Flößen. Sie war achtunddreißig. Seit dem Untergang der Arche hatte sie auf den Flößen zwei Jahre lang überlebt.
Manco, mit zwölf Jahren zur Waise geworden, war untröstlich.
Kristie hatte ihren kleinen pinkfarbenen Kinderrucksack aus London behalten, und Lily sah die Sachen darin durch. Es waren ein paar billige Plastikaccessoires, Kristies Handheld, ihr uralter Teddy. Lily beschloss, den Handheld zu behalten. Sie bot Manco den Teddy an, aber er war ihm zu babyhaft. Er behielt jedoch eine Halskette aus bernsteinähnlichen Perlen, die er sich ums Handgelenk wickelte.
Bis zum Ende hatte es keinen Frieden zwischen Kristie und ihrer Tante gegeben. Als Kristie erfahren hatte, was in Cripple Creek geschehen war, hatte sie nicht akzeptieren können, dass Lily den Platz auf der Arche Eins, was immer das sein mochte, nicht Manco beschafft hatte, ihrem eigenen Fleisch und Blut, sondern Grace, einem Überbleibsel ihrer Geiselzeit. Der Einwand, dass Manco wahrscheinlich sowieso nicht genommen worden wäre und dass Lammockson
ihn garantiert nicht unterstützt hätte, nützte Lily nichts. Sie hatte es nicht einmal versucht , und das war für Kristie Verrat genug.
Auf die eine oder andere Weise hatte sich Lilys Geiselhaft fast Kristies ganzes Leben lang zwischen sie geschoben, und nun verfolgte sie sie bis zu ihrem Tod.
Als Manco in dieser Nacht schlief, sah sich Lily den Handheld genauer an.
Er hatte eine Kalenderfunktion, aber keine Satelliten- oder Funkverbindung. Und er enthielt eine umfangreiche Datenbank, die Kristie als ihr »Sammelalbum« bezeichnet hatte. Lily erinnerte sich, wie Kristie ihr am Esszimmertisch in Fulham einen der ersten Einträge gezeigt hatte, ein Video über einen alten Mann, der wegen der Überschwemmungen in Petersborough nicht zu einem Fußballspiel fahren konnte. Dieser Schnipsel war noch immer vorhanden. Sie sah weitere Einträge durch. Sie waren mit Bedacht ausgewählt und mit flinker Eleganz abgefasst worden. In einer versöhnlicheren Zeit hätte Kristie Schriftstellerin oder vielleicht Journalistin werden können. In den letzten paar Jahren nach dem Ende der Arche, auf den Flößen, hatte sie allerdings kaum noch Zugang zu globalen Nachrichten gehabt, abgesehen von den bruchstückhaften Meldungen, die sie mit einem von Lammocksons aufziehbaren Funkgeräten empfing. Aber ihre eigene Welt wurde seltsamerweise größer, weil die Floßgemeinschaften auf ihrem Weg über die Weltmeere, bei dem sie sich trafen und wieder zerstreuten, Nachrichten untereinander weitergaben, die sie auf ihrem Handheld aufzeichnete.
Neugierig blätterte Lily zu Kristies allerletztem Eintrag. Es war ein wenig Klatsch, den sie vor ein paar Wochen aufgeschrieben hatte. Eine Zeugin sprach von einem Ereignis, nur ein paar Monate, nachdem Lily Grace in Colorado abgeliefert hatte; sie hatte zu den schwimmenden Gemeinschaften auf dem Ozean östlich der Rockies gehört. Eines Nachts saß sie auf ihrem Floß und flocht ihrer ältesten Tochter die Haare zu Zöpfen, als ein Licht über sie
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