Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
gibt’s überall auf der Halbinsel. Kluges Kind. Sie haben sie registriert, ich habe sie dort entdeckt und mich auf die Suche nach euch gemacht …«
Eine neue Welle spülte über die Mauer, sie fuhren erschrocken zusammen.
Lily fasste Kristie an der Hand. »Kommt, wir müssen weg von hier. Der Hubschrauber wartet.«
»Was für ein Hubschrauber?«
»Von AxysCorp.«
»Und die anderen?«, fragte Benj.
»Wir können nicht alle mitnehmen«, erwiderte Lily grimmig. »Tut mir leid, Benj.«
»Lily, was ist eigentlich passiert? Warum steigt das Wasser überall?«
»Ich weiß es nicht. Und im Augenblick will ich uns nur von hier wegbringen. Kommt jetzt! Haltet euch an mir fest …«
Einander an den Händen haltend, kämpften sie sich durch die immer stärker werdende Strömung auf den Hubschrauber zu.
15
Dies also war Millwall, das Herz des East End, ein von Hafenanlagen durchschnittener, verrufener alter Stadtteil, der sich um das Westufer der Isle of Dogs zog. Piers war noch nie hier gewesen.
Der wirtschaftliche Aufschwung, der solch glamouröse Neubauprojekte an die Canary Wharf und nach Greenwich gebracht hatte, war an Millwall offenkundig vorbeigegangen. Doch auch hier gab es Anzeichen städtebaulicher Entwicklung: Gewerbegebiete, Geschäftsgebäude und Wohnsiedlungen aus nicht gerade stabil wirkenden Häusern verdrängten die alten, schlichten »zweistöckigen Schuhkartons«, wie Piers’ Mutter sie genannt hätte.
Das Flusswasser, schwarz und nach Fäulnis und Abwasser stinkend, verschonte jedoch nichts von alledem; es schwappte durch die Straßen, plätscherte gegen mit Sandsäcken geschützte Haustüren, überspülte handtuchgroße Vorgärten.
Nirgends fuhr auch nur ein einziges Auto. Geparkte Fahrzeuge säumten die Straßen; ein paar waren mitten auf der Fahrbahn stehen gelassen worden, nachdem ihre Elektrik nass geworden war. Es war kaum jemand draußen. Durch offene Fenster hörte Piers das Geschnatter batteriebetriebener Radios, aber es brannte kein Licht, und kein Fernsehschirm leuchtete; wahrscheinlich war der Strom ausgefallen.
Die Einwohner schienen vorläufig bereit zu sein, den offiziellen Rat zu beherzigen und zu bleiben, wo sie waren. Im Innern der Häuser sah er Menschen, die Fernsehgeräte und Möbelstücke die Treppen hinaufschleppten. In einigen Häusern hingen jedoch bereits Decken aus den Fenstern der Obergeschosse - ein Zeichen, dass Rettung benötigt wurde -, Decken, die von dem unablässigen Regen schwer und durchnässt waren und in der Brise träge flatterten.
Als Piers in eine Straße mit Reihenhäusern einbog, hörte er das Rauschen von Wasser. Er blickte sich um. Eine Welle, die einen halben Meter hoch sein musste, schoss durch die schmale Straße auf ihn zu, schwarz, ölig und mit einer Deckschicht aus Müll: Plastikbehälter, Milchflaschen, Papierfetzen. Ein toter Vogel, eine Krähe, drehte sich schauerlich im Wasser.
In dem instinktiven Versuch, dem Wasser zu entkommen, trat er durch eine Gartenpforte und stieg zu einer mit Sandsäcken geschützten Haustür hinauf. Aber das Wasser strömte ihm dennoch über die Beine bis hinauf zu den Knien, und der plötzliche Sog ließ ihn taumeln.
Hinter ihm ging die Haustür auf. »He, Obacht mit meiner Pforte.« Eine alte Frau in purpurroter Strickjacke und bequemer Hose stand an der Tür, einen krückenartigen Gehstock aus Metall in der Hand. Die Flut stieg über ihren Sandsackhaufen hinweg und ergoss sich in ihre Diele, so dass sie zurückstolperte. »Oh, mein Gott!«
»Hoppla.« Piers trat rasch ein paar Schritte vor und schaffte es, sie am Ellbogen zu packen, bevor sie stürzte. Er half ihr, das Gleichgewicht wiederzufinden, während das Wasser an ihnen vorbei ins Haus hineinlief. »Alles in Ordnung?«
»Oje, schauen Sie sich meine Teppiche an, was haben Sie da bloß angestellt?«
»Tut mir leid.«
Die alte Frau blickte skeptisch zu ihm auf. Sie mochte um die achtzig sein, mit dünnen, strähnigen grauen Haaren. Früher war sie bestimmt einmal hübsch gewesen. »Ich dachte, Sie wären der Pfleger. Sie sind nicht der Gemeindepfleger, oder?«
»Nein.«
»Das ist kein guter Tag heute. Aber ich habe meine Sachen fürs Krankenhaus gepackt.« Sie zeigte auf eine kleine Ledertasche, die auf einem polierten Tisch in der Diele stand. »Es ist alles bereit. Meine Tabletten - und die Ersatzzähne habe ich auch reingetan, wie Kevin gesagt hat. Aber Sie sind nicht Kevin, oder? Meine Augen sind nicht so gut.«
»Der Pfleger? Nein, tut
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