Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
führe er durch einen Tunnel, der in einen Mammutbaum gehauen worden war. Aber das Hochhaus mit seinen fünfzig Etagen war von einem Wassergraben umgeben, und sein unterirdisches Einkaufszentrum musste bereits überschwemmt sein. In der hereinbrechenden Abenddämmerung war die Fassade des riesigen Monolithen über ihm hell erleuchtet. Er sah Büroangestellte in Hemdsärmeln oder bunten Blusen an den Fenstern, die Kaffee trinkend auf das sturmgepeitschte London hinausblickten. Einige sahen durch Ferngläser, andere machten Schnappschüsse mit ihren Handys; man konnte die Blitzlichter sehen. Piers wusste, dass manche dieser Zuschauer in dem Hochwasser nicht unbedingt etwas Schlechtes sahen. Eine Katastrophe löschte Dinge aus, bot die Gelegenheit, etwas wieder aufzubauen, dabei Gewinn zu machen und seine finanzielle Macht womöglich ein wenig auszudehnen. Die Konzernlenker von Canary hatten sich nie sonderlich für Gemeinden wie Millwall interessiert, mit denen sie sich die Isle of Dogs teilen mussten. Dies war vielleicht ihre Chance, die Situation zu ihren Gunsten zu verändern. Manche der Büroangestellten lachten über die vertriebenen Flüchtlinge zu Füßen ihres Turms und prosteten ihnen spöttisch zu.
16
Helen Gray wurde von AxysCorp in die Londoner Innenstadt gefahren. Der Verkehr staute sich etliche Kilometer lang.
Auf der East Smithfield murmelte die Fahrerin eine Entschuldigung und fuhr hastig von der Straße herunter. Helen, die auf dem Rücksitz saß, wurde gegen den Sicherheitsgurt geworfen und durchgeschüttelt, als die Räder auf der Beifahrerseite über den Kantstein holperten. Sirenen heulten. Ein Polizist in neongelbem Mantel bahnte sich einen Weg zwischen den Autos hindurch und bedeutete den Fahrern mit Handzeichen, die Straße zu räumen. Vor ihnen ragten die Zwillingstürme der Tower Bridge in den grauen Himmel. Helen sah, wie auch die anderen Wagen an den Rand fuhren; der Verkehr teilte sich wie für Moses. Selbst die riesigen neuen Gelenkbusse fanden eine Möglichkeit, den Weg freizumachen.
Der Regen rann über Helens Fenster. Sie sah vorbeihastende Fußgänger in wasserdichten Mänteln, schlichten Straßenanzügen mit Regenschirmen oder wie Schilde über den Kopf gehaltenen Aktentaschen durch die trüben, immer größer werdenden Pfützen platschen. Viele von ihnen hielten sich Handys ans Ohr oder sprachen gestikulierend in die Luft; noch mehr starrten wütend ihre Mobiltelefone an, die
sich störrisch weigerten, ein Signal zu empfangen. Reden, reden, reden … Helen malte sich in Gedanken einen Nebel aus Wörtern aus, der wie Dampf von den klatschnassen Straßen emporstieg.
Im Wagen war es jedoch warm und trocken, und Helen, isoliert von dem Chaos draußen, fühlte sich wohl in ihrem zehn Jahre haltbaren, blauen Allwetteroverall von AxysCorp. Die einzigen Geräusche, die zu ihr durchdrangen, waren das leise Brummen des leer laufenden Motors und das Trommeln des Regens auf das Dach. Was außerhalb des Wagens geschah, schien seltsam unwirklich zu sein.
Es ging immer noch nicht voran. Helen spürte, wie ihre innere Anspannung wuchs; es gelang ihr nicht, sie beiseitezuschieben. Sie hatte darauf bestanden, nach London zurückgebracht zu werden, weil ihr Ansprechpartner im Außenministerium - ein gewisser Michael Thurley, der offiziell für die Angelegenheit mit ihrem Baby zuständig war - ihr versprochen hatte, sich am Ende des Arbeitstages mit ihr zu treffen und sie über die Fortschritte in Kenntnis zu setzen. Für Helen hatte sich der ganze Ausflug nach Southend als Sackgasse erwiesen; ihrem zentralen Anliegen hatte er nichts gebracht. Jetzt war sie entschlossen, die Verabredung in Whitehall einzuhalten, ob London nun kooperierte oder nicht. Aber jedes Mal, wenn der Wagen wieder zum Stehen kam, spürte sie den Würgegriff der Nervosität. Wie schlimm würde diese Überschwemmung werden? Sie hatte das Gefühl, dass das Leben seit ihrer Befreiung immer nur noch mehr aus den Fugen geriet.
Mit Sirenengeheul und blauem Blinklicht kam ein Feuerwehrwagen angerast - gegen die Fahrtrichtung. Deshalb also
hatten sie die Spur räumen müssen. Das Löschfahrzeug brauste an Helen vorbei, eine Wand aus rot lackiertem Metall. Es bildete die Spitze eines Konvois aus Streifen-, Mannschafts-, Kranken- und Rettungswagen; sogar ein paar tarngrüne Militärlaster gehörten dazu. Die schweren Fahrzeuge ließen große Wasserfontänen aufspritzen.
Die AxysCorp-Fahrerin war eine stämmige Frau von vielleicht
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