Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
Atomkraftwerks, dessentwegen sie hier waren.
Die Laptopbildschirme wurden hell. In einem Fenster sah man Lily in einem Hotelzimmer oder dergleichen sitzen, in einem anderen Amanda, ihre Schwester, in den beengten Räumlichkeiten eines Caravans oder Mobilheims. Dies waren lediglich Standbilder. Sie mussten noch ein paar Sekunden warten, bis die Verbindungen vollständig hergestellt waren; die Bandbreite war auch nicht mehr dieselbe wie früher. Helen und Michael waren Amanda nie persönlich begegnet, sie hatten sie jedoch online durch Lily kennengelernt, wie ein entferntes Mitglied einer Großfamilie.
»Das wär’s also«, sagte Helen leise zu Michael Thurley. »Kein Gary, kein Piers - obwohl Piers diese Online-Wiedervereinigung angeblich organisiert hat.«
»Na ja, Gary ist irgendwo auf dem Grund des verdammten Meeres, also kann man ihm wohl keine Vorwürfe machen«, erwiderte Michael. »Aber wie du sagst, Piers hat das Ganze organisiert. Man sollte meinen, er fände eine halbe Stunde Zeit, mit uns zu sprechen.«
»Er hat’s für Lily getan. Sagt er jedenfalls.«
»Und für sich selbst bestimmt auch.« Michael rieb sich das unrasierte Kinn. »Ich bin in einer katholischen Familie aufgewachsen, weißt du.« Tatsächlich hatte sie das nicht gewusst. »Wir waren eine ziemlich enge Gemeinschaft, wir Katholiken in Hampshire - eben weil wir nicht sehr viele waren. Ich bin schon in jungen Jahren aus der Kirche ausgetreten, mit siebzehn oder so.« Er lächelte schief. »Nicht jeder in der Kirche war so tolerant in Bezug auf meine Homosexualität, meine ›Sünde‹, wie er es hätte sein können. Aber meine Mutter hat ihre Religion weiterhin ausgeübt. Ein paar Jahre später ist mein Vater ganz plötzlich gestorben, und meine Mutter meinte daraufhin, sie habe ihren Glauben verloren. Sie ging nicht länger zur Messe, was ich ziemlich beunruhigend fand. Obwohl ich nicht die Absicht hatte, in den Schoß der Kirche zurückzukehren, wäre es irgendwie tröstlich gewesen zu wissen, dass sie weiterhin an ihrem Glauben festhielt. Als stünde mir dadurch ein Rückweg offen. Na ja, sie hat meinetwegen wieder angefangen, hat die Beichte abgelegt, und das war’s dann. War auch gut so. Ich glaube, in den Jahren vor ihrem Tod war die Kirche ein Trost für sie.«
»Und du meinst, bei Piers ist es vielleicht genauso. Er will nicht an der Konferenzschaltung teilnehmen, aber es ist tröstlich für ihn zu wissen, dass wir anderen uns immer noch treffen.«
»Schon möglich. Aber versteht auch nur einer von uns den anderen wirklich? Also, ich versteh ja nicht mal das mit uns .«
Ebenso wenig wie Helen, obwohl sie den westlichen, russischen und iranischen IAEO-Inspektoren und Atomtechnikern,
die sie regelmäßig anbaggerten, ihre Beziehung zu Michael immer wieder hatte erklären müssen. Sie war eine alleinstehende Mutter, Michael ein Homosexueller mittleren Alters, und sie beide verband eine seltsame Beziehung: sexlos, leidenschaftslos - aber nicht wirklich platonisch, es war mehr als das. Sie hatten sich im Trauma der Londoner Überschwemmung zusammengetan; vielleicht hatten sie beide im jeweils anderen gefunden, was sie brauchten, etwas, das ihnen selbst fehlte.
Vielleicht war es auf einer tieferen, zynischeren Ebene aber auch so, dass Helen nur eines an Michael wirklich interessierte: dass er immer noch ihre beste Chance darstellte, ihr Kind zurückzubekommen.
Lilys Bild erwachte ruckartig zum Leben. »Sind wir auf Sendung? Hallo aus Texas.«
Amanda lächelte. Ihr Gesicht erhellte sich, und sie warf ihnen Kusshände zu. »Hallo Buschehr, hier sind die Stimmen der Luxemburger Jury.«
Helen und Michael winkten zurück. Sie kamen sich töricht vor, wie sie so in diesem leeren Lokal saßen und den Bildschirmen alter Laptops zuwinkten.
Sie informierten einander kurz über ihr jeweiliges Wo und Wann: Lily befand sich in ihrem Hotelzimmer in Houston - dort war es Mitternacht-, Amanda in einem Wohnwagen in den Chilterns unweit von Aylesbury, wo es sehr früher Morgen war - »wir hocken hier auf einem Hügel mit einer Schafherde und der halben Bevölkerung von Chiswick« -, Helen und Michael in unmittelbarer Nähe eines iranischen Atomkraftwerks, rund tausend Kilometer südlich von Teheran.
»Ich verstehe wirklich nicht, was ihr dort wollt«, sagte Amanda. »Bist du nicht auf der Suche nach deiner Tochter, Helen? Ihr Vater war doch kein Iraner, sondern ein Saudi. Und ich weiß nicht, was ihr mit Atomkraftwerken zu tun habt
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