Die letzte Flut
dass auf magische Weise ein Krug unter den Stroh- und Heuballen zum Vorschein kommen würde. Ach – hätte ich doch nur daran gedacht, jammerte sie innerlich. Hätte ich nur geahnt, dass ich hier landen würde, dann hätte ich ganze Kisten mit Ginkrügen voll gestopft …
Die Schafe sahen so verlassen und traurig aus. Und die Lämmer waren alle so träge. Nur mit großer Mühe lernten die Rinder, wie sie sich bei den heftigen Bewegungen der Arche auf den Füßen halten konnten – und die Pferde hatten Durst – aber sie hatten schon ihre Wasserration bekommen und mehr durfte es nicht geben – und die Ziegen wollten Schuhe, die sie fressen könnten, oder Blumen – und im Ochsenverschlag war es so eng, dass die Tiere sich nicht hinlegen konnten – und die Hennen waren… und die Gänse waren… und die Schweine waren… und…
»Ach – alle!«, sagte Mrs Noyes plötzlich mit lauter Stimme – sie stand mitten im Heu, eine Heugabel in der Hand, und die Tränen rollten ihr die Wangen hinunter. »Warum müssen wir hier so hilflos sein und so unglücklich?…«
Alle Tiere drehten sich um und starrten sie beunruhigt an. Und als sie ihren besorgten Blick sah, tat es ihr so Leid, dass sie gesehen hatten, wie sie zusammengebrochen war. Dabei hatte sie sich geschworen, dass sie gerade dies nicht erleben sollten – denn sie brauchten sie – sie brauchten jemanden – irgendjemanden –, der stark war.
Einen Augenblick lang – sie erwiderte ihren Blick fast trotzig – ertappte sich Mrs Noyes bei dem Gedanken: Ich will nicht stark sein. Warum kann ich mich nicht ausruhen? Warum kann nicht jemand anderer stark sein? Warum muss immer ich es sein – die als Erste wieder den Kopf über Wasser streckt, wenn ich doch nur einfach untergehen will.
Wenn ich nur aufhören will. Wenn ich nur meinen Gin haben will. Und – verdammt! (Sie sah die Schafe an.) Ich will, dass jemand mir mein Heu bringt!
Dann zwang sie sich zu einem Lächeln.
»Warum singen wir nicht?«, fragte sie. »Ja? Wir können doch alle ein schönes – fröhliches – Lied singen…«
Eine Pause entstand, während Mrs Noyes versuchte – es gelang ihr nicht –, an ein fröhliches Lied zu denken.
»Wir müssen für Mottyl singen«, sagte sie. »Besonders für Mottyl – denn sie ist verschwunden und wir wissen nicht, wo sie überhaupt stecken kann. Und wenn wir laut genug singen, wird sie uns vielleicht hören…«
Genau in diesem Augenblick tat die Arche einen furchtbaren Ruck, der Sturm war schlimmer geworden. Die Laterne schaukelte so heftig, dass Mrs Noyes fürchtete, sie könnte herunterfallen und einen Brand verursachen. Sie ließ ihre Heugabel los, nahm die Laterne vom Haken und hielt sie fest.
Ganz langsam und zögernd begann Mrs Noyes zu singen, so als würde die alte Hymne just in diesem Augenblick geschaffen:
Wie mit grimmigem Unverstand Wellen sich bewegen!
Nirgends Rettung, nirgends Land vor des Sturmwinds
Schlägen!
Einer ist’s, der in der Nacht, einer ist’s, der uns bewacht:
Kyrie, du wandelst auf der See.
Die Schafe schlossen sich ihr als Erste an – die Mutterschafe, dann die Widder und zum Schluss die Lämmer. Sogar die Ziegen hoben zu singen an – und die Ochsen – die in der Vergangenheit nie mitgesungen hatten – begannen zu summen – nur zu summen, denn sie kannten den Text nicht.
Wie vor unserm Angesicht Mond und Sterne schwinden!
Wenn des Schiffleins Ruder bricht,
wo dann Rettung finden?
Keine Hilf, als bei dem Herrn, er ist unser Morgenstern:
Kyrie, erschein uns auf der See!
Und als alle sangen, bahnte sich die Nachricht, die vom Einhorn an das Stachelschwein, vom Stachelschwein an das Wiesel, vom Wiesel an die Füchsin weitergeleitet worden war, bereits ihren Weg von den unteren Ebenen der Arche zu den höheren, und als würde es diese Nachricht beantworten – dass Mottyl gefunden und sicher war –, verlief der Gesang in die entgegengesetzte Richtung, so lange, bis alle Tiere flüsterten und brüllten:
Nach dem Sturme fahren wir sicher durch die Wellen,
lassen, großer Schöpfer, dir unser Lob erschallen,
lobet ihn mit Herz und Mund,
lobet ihn zu jeder Stund:
Kyrie, ja dir gehorcht die See.
Und einen sicheren Platz für Mottyl;
Staub zum Wühlen für Rhino;
Wasser für Hippo;
Licht für Stoßzahn
Und einen Krug Gin für mich…
Amen.
Die Tage vergingen – wurden zu Wochen, und mit den Wochen zeigten sich bei jedem Anzeichen dafür, dass Geduld und
Weitere Kostenlose Bücher