Die letzte Flut
Mutter, im Nachthemd, lag schnarchend im Stroh, zu jeder Seite ein schlafender Bär.
Eine ganze Nacht hindurch hatte es so heftig geregnet, dass am Morgen das Wasser ganz flach und ruhig war. Nebel war herabgestiegen und blieb schwebend über der Oberfläche des großen Meeres hängen – da und dort bildeten sich Wirbel, die von kleineren Sturmböen verjagt wurden – der Nebel stieg ein bisschen höher – gab den Blick frei – verstellte ihn wieder, verdeckte jedoch nie das Wasser selbst oder den Regen, der massierend darauf fiel.
Die Wellen schlugen hoch und die Arche stieg und fiel; bald tauchte das Dach des Kastells und der Pagode auf, bald verschwand es wieder, der Anblick wirkte nach einiger Zeit nervtötend.
Japeth – der das alles von der Tür des Arsenals aus beobachtet hatte – wollte sich gerade für einen weiteren vergeudeten Tag in seine Koje zurückziehen, als er jenseits der Arche etwas erspähte, das ihm einen kalten Schauer durch sämtliche Glieder jagte.
Oh, Gott – oh, Gott!, dachte er – wir sind hier draußen nicht alleine … wir sind nicht alleine!
Er wollte zur Mitte des Kastells eilen, kehrte aber gleich wieder um, um sich zu bewaffnen. Als er wieder herauskam, schon im Laufschritt, trug er Schwert und Schild und Brustharnisch – Netz und Dreizack – drei Messer – zwei Äxte – seinen Bogen, Pfeile und seinen Jagdspeer. Japeth rutschte und schlitterte, fiel hin und kam wieder hoch, während er zum Kastell rannte und mit dem Schrei »Krieg! Krieg!« die Tür aufstieß.
»Was?«, fragte Noah, der gerade beim Frühstücken war – dabei fütterte er Abraham und Sarah auf seinem Schoß, wie Jahwe es getan hatte.
»Krieg!«, sagte Japeth noch einmal. »Krieg!« Er zeigte mit seinem Speer aufs Wasser hinaus. »KRIEG!« Zu mehr Worten war er nicht fähig. Sein Mund steckte voller Messer, seine Hände voller Schnallen und Schwerter, und auf dem Fußboden um ihn herum stapelte sich heruntergefallenes Kriegsgerät.
Noah, der ruhig zu bleiben versuchte, was ihm jedoch nicht gelang, stand abrupt vom Stuhl auf, die Katzen fielen zu Boden. Er griff nach seinem Regenschirm, schritt zur Tür – drehte sich um und sagte: »Hole Sem und Schwester Hannah, sofort!«
Dann war er weg.
Zwanzig Sekunden später kehrte er wieder ins Kastell zurück, und schrie – wie zuvor Japeth – ein einziges Wort. Doch Noahs Wort hieß nicht Krieg. Noahs Wort war: »PIRATEN!«
Was sich auf Deck abspielte, war das reinste Chaos. Selbst Schwester Hannah – mit prallem Bauch – schwenkte ein Schwert. Sem und Japeth sausten von einem Ende der Arche zum anderen und hauten gegen die Reling, um die Piraten am Herüberklettern zu hindern.
Noah – in voller Pracht und Herrlichkeit – stand auf dem Afterdeck unter dem schwarzen Regenschirm; seine Roben flatterten im Wind, sein Bart wallte um ihn herum. Er rief den anderen zu: »Keine Enterkommandos! Keine Enterkommandos!« und wiederholte immer wieder das völlig sinnlose Wort: »Avast!«
Als sie das Tohuwabohu hörten, stürzten Mrs Noyes, Ham, Luci und Emma zur Tür ihres Kerkers – in der sicheren Annahme, dass die Arche dabei war unterzugehen.
Als Noah sie herauskommen sah, rief er: »Alle Mann an Deck, um die Enterkommandos abzuwehren!«
Sem starrte seine Mutter mit wildem Blick an (für Sem unerhört) und sagte nur ein einziges Wort: »Piraten!«
Mrs Noyes drängte nach vorn; Emma hielt sich buchstäblich an ihrem Schürzenzipfel fest und Ham und Luci waren dicht hinter ihnen. Mrs Noyes führte ihre Leute mitten auf das Deck, wo sie sehen konnten, was los war.
Die Arche – unter dem Nebel in eine Flaute geraten und beigedreht – war auf allen Seiten von hunderten von verspielten und umhertollenden Geschöpfen umringt, die aus dem Wasser sprangen, mit ihren Flossen der Arche und ihren Insassen zuwinkten und »Hallo! Hallo!« riefen, bevor sie wieder unter die Oberfläche zurückfielen.
Weiter weg war etwas zu erkennen, das einer Flottille blauer Papierwale aus Noahs Maskenspiel von der Erschaffung der Welt ähnelte – nur dass diese Wale echt waren und nicht blau, sondern andersfarbig. (Papier hätte sich aufgelöst – wäre untergegangen –, begriff Mrs Noyes sehr schnell.)
Ein Blick sagte ihr – und so erging es auch Ham und Luci –, dass die Piraten Freunde waren. (Emma hatte keinen einzigen Blick gewagt. Während der ganzen Zeit hielt sie die Augen fest geschlossen.)
»Aufhören!«, schrie Mrs Noyes – und suchte aufgeregt nach Noah.
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