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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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Durchhaltevermögen bald ein Ende haben würden. Der Tagesablauf auf Deck war streng geregelt und bot wenig Abwechslung. Wirkliche Erlebnisse waren so selten wie Sonnentage. Hannahs Kind in ihrem Bauch war so groß, dass man täglich mit der Geburt rechnen konnte. Sem fand immer weniger, womit er sich beschäftigen könnte und saß bald nur noch mitten im Vorratslager des Hochwürdigen Doktors, wo er sich mit Delikatessen voll stopfte, Datteln, Avocados, Brot und Butter und Bananen. Bald schien er mit seiner Frau in Sachen Bauchumfang zu wetteifern.
    Japeth mit seiner überschäumenden Jugend, dachte nur an eines: an Sex. Jeden Tag von Neuem legte er seine Schwerter und Messer, seine Beinschienen, seinen Brustharnisch und seinen Helm an und nahm sie wieder ab – und jeden Tag, wenn er sich in voller Montur in seinem Schild erblickte, hielt er inne – staunend angesichts der Schönheit seiner blauen Gliedmaßen und bevor er es verhindern konnte, streckte sein Organ sich seiner Hand entgegen und verlangte Zuwendung.
    Jeden Morgen zog Noah sich in die Kapelle zurück und las in der Heiligen Schrift und den Schriftrollen. Nachmittags las er in seinen Seefahrtsbüchern. Abends saß er mit Hannah und den beiden Katzen zusammen, und dann las entweder sie ihm aus den Werken verschiedener gnostischer Magier vor – oder er diktierte seine Theorien über Die Kunst der wahren Alchemie oder Die Anatomie der Vierfüßler, worin er fortfuhr, einerseits die Verwendung von Zink und andererseits die Möglichkeit, ein Schaf mit einer Ziege zu kreuzen, zu untersuchen. Zweimal am Tag ging er auf dem Deck spazieren und starrte zum Himmel hinauf.
    Noah war sich gar nicht bewusst darüber, wie sehr Hannah bereits seinen Tagesablauf kontrollierte – wie eine Krankenschwester, die sich um einen betagten, verwirrten Patienten kümmert. Manchmal saßen die beiden einfach stundenlang zusammen – still und ruhig.
    Unter Deck war man viel beschäftigter – auch wenn es sich meist um einfache Arbeiten handelte. Emma fütterte die Vögel, Ham die größeren Tiere und Luci die Tiere, die weder als groß noch als klein galten. Mrs Noyes versorgte ihre Schafe und sorgte dafür, dass alle zu essen bekamen. Mottyl hatte sich in einem verborgenen Nest über dem Käfig des Einhorns häuslich niedergelassen und ihre Kätzchen gediehen und machten nach ein paar Tagen Ohren und Augen auf, um die Welt der Arche zu erkunden.
    Mrs Noyes brauchte lange, um von ihrem Bedürfnis nach Alkohol geheilt zu werden – und gelegentlich brauchte sie Hilfe, um sich von ihren Träumen zu erholen. Manchmal begann sie, im Schlaf zu wandeln, und das hatte ein außergewöhnliches Erlebnis zur Folge.
    Vier Wochen, nachdem die Arche ihre Fahrt begonnen hatte, geriet sie in einen furchtbaren Sturm mit vielen Blitzen und tobendem Donner. Obwohl das ganze Boot vom Krach des Gewitters widerhallte, brach Mrs Noyes unbewusst – was nicht ungefährlich war – zu einem ihrer nächtlichen Spaziergänge auf. Er führte sie bald zu einem Käfig, in dem zwei Bären saßen, die wegen des Sturms große Angst hatten. Mrs Noyes, die sich schon immer sehr vor Bären gefürchtet hatte, geriet bei ihrem Anblick in Angst und Wut. Eine Wut, die zweifellos aus ihrer Unfähigkeit rührte, ihre Angst zu überwinden. Wie auch immer, jedenfalls lagen die Bären da und schliefen, und einer von ihnen weinte. Mrs Noyes träumte gerade von Lotte und selbst im Schlaf brach ihr das Herz bei der Erinnerung an das Kind, das ihr genommen worden war. Als sie mitten in einem gewaltigen Donnerschlag aufwachte, hörte Mrs Noyes den Bären weinen. In Gedanken noch ganz bei Lotte, öffnete sie die Tür des Bärenkäfigs und ging hinein.
    »Arme, arme Lotte«, sagte sie, und streckte dem weinenden Bären ihre Arme entgegen. »Hab keine Angst – es ist nur ein Sturm…«
    Der Bär lief in ihre ausgebreiteten Arme und ließ den Kopf über ihre Schulter hängen.
    »Ist schon gut, ist ja schon gut«, sagte Mrs Noyes und erst, als sie dem Wesen besänftigend den Rücken streichelte, erkannte sie, was sich da in ihren Armen befand. Sie war hin- und hergerissen zwischen Angst und Wut, doch zu guter Letzt siegten praktische Überlegungen.
    Nanu – dachte sie –, was soll ich jetzt tun?
    Die Antwort war ziemlich einfach.
    Sie setzte sich auf den Boden des Bärenkäfigs und hielt den erschrockenen Bären so lange fest, bis er mit dem Kopf auf ihrem Schoß einschlief…
    So fand Ham die beiden am nächsten Morgen: Seine

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