Die letzte Flut
auch für die anderen. Jetzt sperrte Japeth sie ein und keinem von ihnen war erlaubt, in den wenigen Pausen ihrer Zwangsarbeit an die frische Luft zu gehen. Ihre Arme taten da, wo Sem sie mit Füßen getreten hatte, damit sie Japeths Beine losließ, unerträglich weh. Die blauen Flecken waren inzwischen gelb geworden und sie fürchtete, ihre Finger bald nicht mehr benutzen zu können, da beim Greifen jede Muskelbewegung in den Unterarmen die reinste Qual war. Wenn sie das Fleisch aufschnitt, musste sie es mit der Innenfläche einer Hand festhalten, während sie mit einem Messer daran sägte, das Ham an der anderen Hand und dem Handgelenk, die mit Zweigen geschient waren, festgebunden hatte.
Luci war in diesen Tagen seltsam verschlossen, so, als hätte die Piratenepisode auch sie betroffen. Doch ihre Verschlossenheit (das heißt, sie erzählte keine Witze mehr und lachte nie) hatte dazu geführt, dass sie auch weniger schlampig war. Ihre Körperhaltung zeigte wieder die gewohnte Anmut, sie lief kerzengerade und so wunderbar geräuschlos herum, wie, so erinnerte sich Mrs Noyes, damals, als sie zum ersten Mal aufgetaucht war. Ihr gepudertes Gesicht war noch weißer – sofern das überhaupt möglich war –, ihre Augenbrauen waren noch kräftiger nachgezeichnet und ihre schwarzroten Lippen hatten einen noch bestimmteren Ausdruck. Ihre Haare hatten ihren alten Glanz wiedererlangt – wie das Fell eines Tieres nach langer Krankheit. Die Tiefe der Farbe, die schwarze Pracht waren schöner als je zuvor. Mrs Noyes beobachtete Luci, während diese durch die Korridore lief und ihrer Arbeit nachging, und da fiel ihr ein, was Luci gesagt hatte, als Mrs Noyes vor langer Zeit, bevor sie die Erde verlassen hatten, sie gefragt hatte, wie groß sie sei. »Zwei Meter sechsundzwanzig, und jeder Zentimeter eine Königin.« Wahrhaftig. Denn ihre Gewänder, die sie Kimonos nannte, waren aus Seidenstoffen, die sehr wohl aus dem Besitz einer Königin hätten stammen können. Mrs Noyes konnte nicht umhin, sich zu fragen, wie eine einzige Aussteuertruhe so viele dieser Kimonos aufnehmen und trotzdem noch Platz für alle anderen Wunder bieten konnte, die Luci andauernd zu ihrem Komfort und zu ihrer Unterhaltung anschleppte: die Musikinstrumente, das Porzellangeschirr, von dem sie aßen, und die Messer mit Perlmuttgriffen, mit denen sie ihre Speisen aufschnitten. Und die magischen Laternen – dass sie diese Laternen Noah entwendet hatte, konnte sie jemand anderem erzählen. Was für eine seltsame, entzückende Kreatur Luci war – und Mrs Noyes freute sich immer mehr, dass ihr Sohn, von dem jeder gesagt hatte, er würde überhaupt nie heiraten, eine Frau mit so viel Geschmack und Reichtum und Charakterstärke gefunden hatte. Und eine so tolle Schauspielerin dazu: »Mit all den lustigen Stimmen!«, die Mrs Noyes – ab und zu – nachzuahmen versuchte.
Als die Nacht hereinbrach und alle Tiere gefüttert waren, lief Mrs Noyes den Gang entlang und die Treppe hinunter zu dem versteckten Brett über dem Einhorn, wo im Dunkeln Mottyl und ihre Kätzchen lagen.
»Hallo, meine Liebe«, sagte sie und zog den Strohvorhang beiseite und hängte ihre Lampe an den Haken über ihrem Kopf.
Mottyl lag auf der Seite und döste; die Kätzchen waren zum Füttern aufgereiht, schliefen aber fest. Das warme, tiefe Geräusch, das von ihnen kam, wirkte auf Mottyl wie ein Beruhigungsmittel.
»Ich habe dir ein Stückchen Leber und ein bisschen Niere mitgebracht«, sagte Mrs Noyes, als sie es sich oben auf dem Geheimtreppchen bequem machte, das sie heruntergezogen hatte, um auf gleicher Höhe wie Mottyl zu sein.
»Ach – muss sie dir Niere und Leber geben!«, klagte das Einhorn mit seiner flüsternden Stimme. »Warum kann eine Katze kein vernünftiges Zeug fressen, Blumen zum Beispiel?«
»Eine Katze«, antwortete Mottyl, setzte sich auf und streckte sich, »frisst schon vernünftiges Zeug wie Blumen.
Aber nur zu vernünftigen Jahreszeiten wie im Frühling und Sommer.«
»Wirklich?«, fragte das Einhorn. »Was für Blumen denn?«
»Kräuter. Katzenminze«, Mottyl beugte sich über die Leber und Niere, »wofür ich im Augenblick fast meine ungeborenen Kinder verkaufen würde.« Sie drehte den Kopf auf eine Seite und warf die Niere auf ihre Backenzähne, um möglichst viel Saft herauszuholen.
»Sag mir, was du noch für Blumen magst!« Das Einhorn hätte alles – auch den bloßen Namen einer Blume – jetzt besser gefunden als den Geruch von so viel
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