Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
Vom Netzwerk:
du Interesse hättest. Man kann eine schwangere Frau nehmen, weißt du.«
    Sem war entsetzt.
    »Deine Frau hat nie zuvor ein Kind getragen. Du warst noch nie in dieser Situation. Aber dein Begehren nach ihr muss noch lebendig sein… oder? Sag’s mir! So ist es doch, nicht wahr?«
    Sem sah auf seinen Schoß und presste den Mund zu.
    »Ich hatte immer den Verdacht, dass du eine Frau in einem der Arbeiterhäuschen versteckt hältst. Ein kräftiger Mann wie du… dir hat doch sicher deine Frau allein nicht genügt. Hab ich Recht?«
    Sem schüttelte den Kopf.
    »Keine andere Frau, eh? Nun ja. Du hast noch weniger Phantasie, als ich dachte.«
    Noah musste wieder an Japeth denken. Das Bild seines toten Zwillings stieg vor ihm auf, er sah ihn in der Tür stehen – seine langen Arme baumelten herab und seine kleinen Augen starrten und sein Mund hing offen. Da durchfuhr ihn ein furchtbarer Gedanke.
    »Das Kind ist doch von dir, nicht wahr?«, sagte er zu Sem.
    Sem sah von seinem Schoß auf and starrte seinen Vater an.
    »Welches Kind?«
    »Dieses Kind – Hannahs Kind –, es ist sicher von dir?«
    »Natürlich, Vater.«
    Noah schaute wieder auf die Tür, die zum Deck führte und sagte: »Das kannst du nicht ernst meinen, wenn du sagst, du hast nicht gesehen, wie er sie anschaut. Seine Augen sind nie woanders. Und was ist mit ihr? Hm? Sag’s mir! Hat sie ihn jemals angeschaut?«
    »Niemals.«
    »Das sagst du so schnell; ich frage mich, ob es wahr ist.« Mit zusammengekniffenen Augen fixierte Noah Sem, den Ochsen. »Sag mir, dass du keinerlei Zweifel daran hast, dass das Kind von dir ist!«
    »Es ist von mir, Vater.«
    Noah wischte seine Finger am Bart ab.
    »Trotzdem«, sagte er, »finde ich es an der Zeit, eine gewisse Sache zu erzwingen.«
    Sem wartete.
    Noah sagte: »Ich finde, es ist an der Zeit, diesen jungen Mann und seine eigene Frau zusammenzubringen.«
    Sem biss sich auf die Lippe.
    »Wenn wir mit dem Abendessen fertig sind«, sagte Noah, »will ich, dass du in den Laderaum hinuntergehst und sie heraufholst. Sag nichts! Bring sie nur her! Zu mir.«
    Japeth hatte an jenem Morgen Piraten für die Leoparden und die Löwen geliefert und Mrs Noyes war nur froh, dass sie tot angeliefert wurden. Das Säubern und Ausnehmen erinnerte zur Genüge an das Schlachthaus zu Hause – vielen Dank –, wo die Rinder und die Schweine an den Füßen aufgehängt wurden, während man ihnen den Hals aufschlitzte und ihre Augen glotzten.
    Ham mit seinem fast beunruhigend pragmatischen Sinn hatte gesagt, nichts dürfe verschwendet werden. Und es wurde nichts verschwendet. Nicht einmal die Gedärme. Sie wurden in der Tat an die Bären verfüttert, die darin Fische und anderes Getier fanden, das die Piraten gefressen hatten. Und in diesen Fischen und anderem Getier – noch anderem Getier – und in diesen Geschöpfen noch mehr – bis Mrs Noyes es aufgab, die Schichten zählen zu wollen. Ham aber schaffte es – und fand sie wunderbar.
    Emma hatte wegen der geschlachteten Jungtiere reichlich Tränen vergossen, ihr Leben war geopfert worden, um vor der Ankunft der Piraten die Leoparden und die Löwen zu füttern, doch jetzt wurde sie stoisch und still. Es war ihre Aufgabe, die Fleisch fressenden Vögel zu füttern, und obwohl sie vor Vögeln größten Respekt hatte, schien es ihr gar nichts auszumachen, wenn sie damit beauftragt wurde, Tabletts mit Herzen und Leber für die Adler und die Habichte, die Bussarde und die Eulen hinaufzutragen. Warum – das kapierte Mrs Noyes erst, als sie zufällig in der Vogelgalerie mit anhörte, wie das Kind mit singender Stimme zu den Tieren sprach, während es die kleinen Delikatesshäppchen durch das Gitter schob. Emma lief im Takt ihrer Worte von Käfig zu Käfig und zirpte mit ihrer kleinen Vogelstimme: »Eine Maus weniger für dich… ein Kaninchen weniger für dich… eine Kröte weniger für dich… einen Spatzen weniger für dich!…«
    Mrs Noyes ging lächelnd davon, und als sie bald darauf einen Löwen mit einem Piraten fütterte, machte sie vor ihm einen Knicks und sagte: »Ein Pony weniger für dich!«
    Trotzdem hatte sie die Tragödie – und es schien ihr nicht weniger als eine Tragödie zu sein – all dieser toten Piraten noch nicht verarbeitet; ihre lustigen Augen und ihr bezauberndes Lachen, als sie neben der Arche spielten und Japeth zuriefen, dessen Bogen sie für eine Harfe hielten, waren so wunderbar gewesen. Mrs Noyes’ Rebellion gegen das Abschlachten hatte einen hohen Preis –

Weitere Kostenlose Bücher