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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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und küsste sie zum Abschied auf den Kopf. Dann sagte sie: »Hier. Warte…«, und sie ging wieder ein paar schnelle Schritte auf Emma zu. »Nimm das!«, sagte sie – und reichte dem Mädchen ihr Taschentuch. »Wisch dir das Gesicht, während du über das Deck gehst! Und binde die Schleife hinten am Kleid!«
    »Ja.«
    Emma nahm das Taschentuch und lächelte. Das war falsch. Immer wenn sie weinen sollte, tat sie es garantiert nie.
    »Ich werde für dich viel frische Luft tanken, Mutter Noyes«, sagte sie. »Auf Wiedersehen.«
    Mrs Noyes winkte – und bereute es sogleich. Der Schmerz schoss ihr durch den Arm.
    »Auf Wiedersehen«, flüsterte sie.
    Und lächelte, um Emmas willen.
     
     
    Als sich oben die Tür öffnete, glaubte Mrs Noyes einen Stern zu sehen – aber es war nur eine Laterne, die vom Portikus hing.
    Als die Riegel vorgeschoben wurden, klang das schlimmer als jedes Geräusch, das sie sich vorstellen konnte.
    Beim Zurückgehen sah sie, dass Luci im Dunkeln unter ihr stand. Ihre Augen leuchteten ganz seltsam.
    »Was ist los?«, fragte sie.
    »Ich weiß es nicht genau«, sagte Mrs Noyes. »Ich weiß nur, dass ich im Augenblick sehr gern glauben möchte, dass Beten hilft.«
     
     
    »Da bist du nun endlich«, sagte Noah, geradeso als ob Emma aus eigenen Stücken weggeblieben wäre. »Lass mich dich anschauen – lass mich sehen!«
    Emma hatte es geschafft, genau mitten im Gesicht eine kreisrunde Stelle zu säubern, und ihre Augen schienen wie aus einem Mond heraus hell zu leuchten. Ihre Haare waren von einigen verlotterten Stofffetzen gebändigt, die kreuz und quer herunterhingen und von denen keine zwei dieselbe Farbe hatten. Ihr Kleid war stark zerrissen und ihre Schürzen mit Fett- und Seifenflecken übersät. Vogeldreck und Strohstaub verklebten ihre Schultern. Ihre Arme – die Ärmel ihres Kleides waren hochgekrempelt, damit sie beim Spülen nicht ganz nass wurden – leuchteten unpassend bleich und unbefleckt.
    Noah stand auf und nickte Sem zu, der sich widerwillig zurückzog. Er traute seinem Vater jetzt nicht mehr, und es graute ihm vor dem, was nun geschehen könnte – jedoch nicht um Emmas willen. Sems Grauen bezog sich nur auf die Laune seines Vaters, falls sich die Ereignisse gegen dessen Willen entwickeln sollten.
    »Schick Schwester Hannah herein!«, sagte Noah – gerade als Sem schon an der Tür stand. »Sag ihr, dass ich sie brauche!«
    Als Sem weg war, lächelte Noah – auch wenn es schwierig war, das unter so viel Bart erkennen zu können. Und seine hölzernen Zähne machten ihm zu schaffen: Sie blieben fest zugeschnappt, wenn er sie aufmachen wollte – und geöffnet, wenn er sie aufeinander pressen wollte. Er führte die Hand zum Mund und drückte die Zahnreihen zusammen, wobei er sich fast in den Finger biss.
    »Na, also. Sag guten Tag!«, sagte er.
    Emma knickste.
    Noah hustete.
    »Wir haben uns Sorgen gemacht«, sagte er.
    Emma wartete.
    Noah hatte offensichtlich nichts weiter dazu zu sagen.
    »Du siehst dick und frech aus«, sagte der alte Mann; seine Augen glänzten und seine Finger spielten mit dem Bart. »Wie alt bist du jetzt? Ganz ehrlich!«
    Emma kam gar nicht auf den Gedanken zu lügen, wenn es um ihr Alter ging. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich glaube, ich bin zwölf.«
    »Du kannst nicht zwölf sein«, sagte Noah. »Vor einem Jahr – mindestens – warst du schon zwölf. Ich hatte eher gehofft, du würdest mir sagen, du seist vierzehn.«
    »Es kann sein. Ich weiß es nicht.«
    »Auf jeden Fall – wie alt du auch sein magst«, sagte Noah, »bist du kein Kind mehr.«
    Das wusste Emma.
    Hannah kam herein – sie war ganz in Weiß gekleidet und trug über ihrem langen bauschigen Gewand eine schwere Strickjacke. Das Kind in ihrem Bauch könnten Zwillinge sein, dachte Emma. Er ist riesig.
    »Ja, ja. Gut«, sagte Noah. »Hier ist deine junge Freundin, Schwester Hannah.« Noah hustete und gab Hannah mit einem Wink zu verstehen, dass sie sich Emma nähern sollte. »Sie – äh – vielleicht – äh – sie…«
    Hannah sagte: »Sie könnte vielleicht ein Bad brauchen, Vater Noyes.«
    »Genau«, sagte Noah. »Ja. Ein Bad. Ein schönes, heißes Bad. Ja.«
    Emma schniefte und zog Mrs Noyes Taschentuch unter ihre Nase. Ein Bad, dachte sie, wäre herrlich, aber… warum?
    »Komm mit, Em!«, sagte Hannah – streckte die Hand aus und lächelte.
    Sie waren auf einmal alle so freundlich.
    Was sollte das bedeuten?
    »Ich werde warten«, sagte Noah. »Hier.«
    Hannah führte Emma

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