Die letzte Flut
sie im Wald einen Bären vor Schmerz schreien hörte, einfach hinzugehen, ungeachtet all der anderen Bären und ihn zu trösten? Doch in der Arche bewegte sie sich nicht nur unter Bären – sie saß unter ihnen und hatte keine Angst. Genauso wie das Einhorn vor ihr keine Angst hatte. Und auch das war früher unvorstellbar gewesen. Aber hier waren sie. Zusammen. Miteinander sicher – und doch…
Was ist denn das für eine Grausamkeit, fragte sie sich, die diese Türen da oben zuriegelt und uns einsperrt, als ob wir Drachen wären – und man Angst vor uns haben müsste?
Der Gedanke an Noahs Wutanfälle und an den bewaffneten Japeth gab ihr die Antwort.
Grausamkeit war getarnte Angst, nichts anderes. Und hatte nicht einer von Japeths heiligen Fremden einmal gesagt, Angst sei nichts anderes als Mangel an Phantasie?
Deswegen hatte Mrs Noyes Angst vor Bären gehabt.
Sie hatte sich nicht vorstellen können, sie zu trösten.
»Mutter!«
Mrs Noyes purzelte fast von ihrem Treppchen. »MUTTER!«
Es war Sem, der Ochs.
»MUTTER!«
Er war so schrecklich nahe, dass Mrs Noyes sich beeilen musste, um Mottyl und die Kätzchen schnell zu verstecken und ihre Lampe herunterzuholen. Dabei gebrauchte sie versehentlich ihre Finger und schrie vor Schmerz auf.
Sem kam um die Ecke und stieß beinahe mit ihr zusammen.
»Warum schreist du so?«, fragte er; er vergaß ganz, dass auch er geschrien hatte.
»Ich bin mit dem Arm angestoßen«, sagte Mrs Noyes. Gerade als sie sprach, hörte sie zu ihrem Schreck ein Geräusch von Mottyls Kätzchen.
Sem war zwar schwer von Begriff, aber doch nicht so sehr, dass er die Stimmen von kleinen Katzen nicht hätte erkennen können. Im Versuch, sie zu retten, begann Mrs Noyes schnell ein Lied zu singen:
»Fels des Heils, geöffnet mir!«, brüllte sie, »birg mich, ew’ger Hort, in dir!«
»Mutter…«
»Warum gehen wir nicht hinunter in den Flur?«, fragte Mrs Noyes. »Wir wollen die Tiere doch nicht aufwecken…« und dann sang sie lauthals weiter: »Lass das Wasser und das Blut … «
Mrs Noyes stupste Sem mit dem Ellbogen und drängte ihn den Gang entlang zur Treppe.
»Jetzt sag mir, was du willst!«, sagte sie, als sie auf der Treppe und die Kätzchen sicher außer Hörweite waren. »Warum kommst du diesmal und störst uns?«
»Ich will Emma«, sagte Sem.
»Das mag schon sein – aber du kannst sie nicht haben«, sagte Mrs Noyes. »Sie gehört Japeth.«
Sie stieß ihn in die Rippen und zwang ihn vor ihr hinaufzugehen.
»Du und Vater, ihr denkt nur an Sex«, fragte Sem.
Mrs Noyes blieb abrupt stehen. »Wie bitte?«, sagte sie.
»Du und Vater, ihr denkt nur an Sex«, sagte Sem noch einmal.
»Lass mich aus dem Spiel!«, rief Mrs Noyes. »Warum sagst du so etwas von deinem Vater?«
»Ich meine nicht, dass er Sex für sich will«, sagte Sem. »Ich meine, Sex für andere Leute. Mir kommt es vor, als würde er zur Zeit von nichts anderem reden.«
»Ach, wirklich?…« Mrs Noyes versuchte ruhig zu bleiben. »Und jetzt willst du Emma?…«
»Ja.«
Sie erreichten das obere Ende der Treppe und gingen auf die Kombüse zu, in der sich Emma – höchstwahrscheinlich – aufhielt.
»Warum willst du sie?«
»Darf ich nicht sagen«, sagte Sem. »Sollte nur hierher kommen und sie holen.«
Mrs Noyes wollte gerade dagegen protestieren, als ihr Plan durch das plötzliche Auftauchen von Emma selber zunichte gemacht wurde.
»Hat mich jemand gerufen?«, fragte sie. »Ich habe meinen Namen gehört.«
Das hast du wahrhaftig, dachte Mrs Noyes. Leider!
»Du sollst mit Sem mitkommen«, sagte sie laut. Und dann, an Sem gewandt: »Ist nicht so viel Zeit, dass sie wenigstens noch ihr Kleid wechseln kann?«
»Soll sie sofort mit hinaufnehmen«, sagte Sem.
»Darf sie nicht einmal die Haare bürsten?«
»Sofort«, sagte Sem, breitete seine Ochsenarme aus und zeigte Emma sein straffes kleines Lächeln, was als nette Begrüßung gemeint war.
Mrs Noyes sah, wie sauber ihr Sohn war. Die Haare auf seinen Armen glänzten im Licht der Lampe und sein Nacken war sauber und seine Zehennägel auch. Plötzlich kam es ihr ziemlich sonderbar vor, zu merken, dass sie selbst sich seit Tagen, vielleicht sogar seit Wochen, nicht mehr gewaschen hatte. Der korrekt gezogene Mittelscheitel in Sems sandfarbenem Haar und der Geruch seiner Tunika brachten sie fast zum Weinen.
»Nun«, sagte sie zu Emma. »Am besten, du gehst mit ihm. Hab keine Angst!«
Sie führte Emma zur Treppe, die zum oberen Deck führte,
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