Die letzte Flut
die düstere Vorahnung des Todes durch Ertrinken.
»Ich brauche Euch hier«, flüsterte er, »wenn nicht als Gott – dann zumindest als einen Freund…«
Bestimmt werde ich nicht für immer allein bleiben, dachte er. Sicher wird es nicht so weit kommen.
Er stand am Bug unter dem schwarzen Regenschirm und wartete. Er wartete eine Stunde. Zwei Stunden. Drei. Er wartete den ganzen Nachmittag.
Von ihrem geheimen Versteck in der Pagode aus beobachtete Krähe Noah. Der alte Mann schien genauso eifrig nach Land Ausschau zu halten wie sie. Aber sie wusste, dass da keins war. Wenn es so wäre, dann hätte sie es gerochen. Und wenn der alte Mann nicht Noah gewesen wäre, wäre sie hinuntergeflogen und hätte es ihm gesagt. Aber so hatte sie keine Lust dazu, und sie plusterte ihre Federn auf und setzte sich tiefer in die tröstliche Rundung des Kaminaufsatzes, der ihr als Nest diente. Wenn der alte Mann ein bisschen Verstand hätte, dachte sie, würde er seine Wache aufgeben. In dem Wasser war nichts (sie hatte so oft nachgeschaut) außer den klobigen Gestalten der Wale, die das Schwimmen erlernten, und den Leichen einiger Kinder und den Seiten einiger Bücher.
Jahwe? Nein.
An jenem Abend führte Noah beim Essen den Kopf sehr nahe an den Teller. Er hielt seinen Löffel, wie Kinder es tun – in der Faust –, und er siebte seine Suppe durch seinen Bart, als wüsste er gar nicht, dass er einen Bart hatte. Sein Blick bewegte sich flink hin und her über den Tisch und seine Söhne, Sem und Japeth. Und Hannah.
»Was ist das für ein entsetzlicher Brei?«, fragte er.
»Fischsuppe«, sagte Hannah, die inzwischen recht stolz war auf das, was sie da zauberte, nur aus dem, was das Meer lieferte, und dem bisschen, das sie in Noahs Speisekammer fand und besonders seinen Bedürfnissen entsprach, nämlich seine Kräuter, Tees und verschiedene Käsesorten.
»Pfui!« Noah schob den Teller weg und ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen. »Wann wird es mal etwas zu essen geben, das den Namen Essen verdient?«, fragte er.
»Wenn es Land gibt«, sagte Sem.
Noah achtete nicht auf ihn. Die Antwort war zu direkt und ließ keinen Raum zur Diskussion. Und er sehnte sich – dringend – nach Diskussionen; streiten; debattieren; sich unterhalten… etwas, was Geist und Fantasie erforderte. »Seit Wochen schon hast du Gelegenheit zum Üben«, sagte er, immer noch zu Hannah gewandt. »Doch wir kriegen nichts als abscheulichen Fraß. Ich werde nichts mehr davon essen. Bring mir ein Ei oder einen Apfel! Irgendetwas, nur nicht das hier!«
Hannah sagte nichts; sie stand von ihrem Stuhl auf und wollte zur Kombüse.
Noah schlug auf den Tisch.
»Meinen Teller!«, sagte er.
Hannah kam zurück und nahm den Teller in beide Hände. Sie zitterte vor aufgestauter Wut. Obwohl seine Laune sie mürrisch machte und sie von ihrer Schwangerschaft mehr als genug hatte, schluckte sie jedes Wort, das hätte verraten können, wie sie sich zur Zeit fühlte, hinunter und murmelte nur ja und nein. Wenn er den Drang spürte, schrieb sie auf, was der alte Mann diktierte, und las es ihm dann nochmals geduldig vor. Sie kommentierte nie – sagte nie »das stimmt« und »das stimmt nicht« oder »da stimme ich zu« und »da nicht«. Nichts. Kein einziges Wort. Und doch steckte sie voller Worte. Sätze und Absätze. Geflüster und Schreie. Hunderte davon. Tausende. Aber sie war eine Frau und durfte nicht sprechen. Nicht laut sprechen. Nur schweigend denken und verrückt werden. Und auch jetzt, als sie Grund gehabt hätte, im eigenen Interesse zu sprechen, wahrte sie ihr schreckliches Schweigen, nahm den Teller und ging damit durch die kleine Tür, die zur Kombüse führte. Sie ließ die Tür hinter sich zuknallen.
Noah warf einen Blick auf seine Söhne: Sem zu seiner Rechten – Japeth zu seiner Linken, alle beide vis-à-vis, wo er sie im Auge behalten konnte. (Wenn Hannah sich setzte, dann nahm sie am Ende des Tisches Platz in der Nähe ihres Arbeitsbereichs.)
Sem aß ruhig vor sich hin – hob und senkte seinen Löffel –, legte nie, nachdem er den Löffel zum Mund geführt hatte, eine Pause ein. Sprach kein Wort. Er kam zu Tisch, um gefüttert zu werden, mehr nicht. Seine mächtigen Schultern bildeten eine Rundung, hinab bis zum Bauch – und sein Bauch war aufgedunsen und stieß ihn von der Tischkante zurück und Noah dachte: Wenn er nicht aufhört zu essen, wird er noch ganz dick werden, wie seine Mutter…
Japeth war wie ein Tier, das man gerade aus
Weitere Kostenlose Bücher