Die letzte Flut
siegen konnten, außer dem Willen zu siegen. Und der Notwendigkeit.
In der Kapelle hatte Noah das silberne Kätzchen auf den Altar gelegt.
Schwester Hannah kniete nieder und zog ihre Tücher fester um sich.
Abraham und Sarah lauerten an der Tür.
Noah dankte Jahwe für das Geschenk dieses Wunders – und er zog das Messer durch das leblose Fleisch. Er drückte die kläglichen Blutstropfen auf seine Finger, hielt sie Schwester Hannah hin und befahl ihr zu trinken.
Als sie getrunken hatte und seine Finger von ihren Lippen löste, benetzte er sie noch einmal mit Blut – und trank selber davon.
Dann warf er sich hin – ausgestreckt –, drückte sein Gesicht auf den Boden und begann, vom Heulen des Windes begleitet, alle Opfer- und Erlösungsgebete aufzusagen.
Hannah ihrerseits fing auch an zu beten – gab es aber bald auf, weil sie plötzlich von Schmerzen geradezu überwältigt wurde.
»Mir ist nicht gut«, flüsterte sie. »Mir ist nicht gut. Helfen Sie mir!«
Aber Noah betete zu seinem Gott und schenkte ihr kein Gehör.
Emma zu finden war ziemlich einfach.
Krähe, die so lange in der Pagode gelebt hatte, kannte sich recht gut mit der Anordnung aller Kajüten im Kastell aus und auch mit allen Eingängen, sowohl den geheimen als auch den allgemein bekannten. Den heiklen Riegel an der Salontür kannte sie so gut wie Abraham.
Japeth, der sich was Barrikaden anging, zu sicher fühlte und nicht nur an Nesselsucht – eine Folge von Lucis Fluch –, sondern auch an all seinen unverheilten Wunden furchtbar litt, versuchte verzweifelt im Arsenal Schlaf zu finden. Sem war nirgends zu sehen. Als sie in den Gang jenseits des Salons schlüpfte, entdeckte Krähe Doktor Noyes und Hannah beim Gebet und – ach! – auf dem Altar erkannte sie auch den Gegenstand ihrer Anbetung: Mottyls silbernen Sohn – ihren Schatz. Doch sie hatte keine Zeit zum Trauern – nicht einmal Zeit, um ihren Zorn zu empfinden –, sie flog weiter zum hinteren Teil des Kastells, wo sich neben den Latrinen Emmas Kajüte befand.
Krähe schlug mit ihren Flügeln gegen die Tür.
»Geh weg!«, sagte Emma.
Krähe schlug weiter; sie wollte nicht sprechen, aus Angst, Sem könnte in der Nähe sein und sie hören.
»Geh doch endlich weg!«, sagte Emma.
Krähe hörte auf. Was konnte sie machen?
Wenn sie nicht sprechen konnte, musste sie etwas anderes versuchen.
Sie flog auf den Boden und betrachtete die Tür. Unten war ein Spalt, der gut zwei Zentimeter breit sein mochte. Krähe dachte nach und dachte nach und kam zu keiner Lösung – außer der nun allzu deutlichen Gewissheit, dass gut zwei Zentimeter nicht genug waren, um ihr den Durchgang zu ermöglichen.
In der Kapelle leierte Noahs Stimme endlose Gebete herunter – und Krähe versuchte, den Gedanken an das, was auf dem Altar lag, zu verscheuchen. Der Geruch des Weihrauchs rief andere bittere Gedanken wach – zum Beispiel, wie sie aus ihrem Versteck über dem Kamin vertrieben wurde und…
Aus ihrem Versteck über dem Kamin vertrieben.
Weihrauch.
Rauch.
Krähe flog durch den Gang zurück – suchte eine brennende Kerze oder eine sonstige Feuerquelle und wurde in der Kombüse fündig.
Als Emma den Rauch unter ihrer Tür hochkringeln sah, versuchte sie sofort durch das Bullauge zu entkommen.
»Oh, oh, oh!«, sagte sie – ganz leise –, ihr Grauen vor Feuer versetzte sie in eine gnädigerweise fast stimmlose Panik. »Oh, oh, oh…« Und sie machte sich an der Türklinke zu schaffen.
Als die Tür endlich nachgab, hatte sie schon eine Decke über den Kopf geworfen, um gegen das Inferno, das sie vorzufinden erwartete, gewappnet zu sein. Doch als sie keine Flammen sah – kein Geräusch hörte und keine Hitze spürte –, zog Emma die Decke langsam wieder zurück und spähte in den Gang hinaus.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie. Krähe hatte keine Zeit für Erklärungen. Sie hatte nur Zeit zu winken: »Folge mir!«
Der Schnee war in die Ecken geweht, wo sich eine Eisschicht bildete, die eine Landschaft von heimtückischen Rutschen und Kurven schuf. Vögel froren an der Reling fest. Das Deck war eine Achterbahn aus Eis und der Himmel darüber bildete eine düstere Masse formloser pechschwarzer Wolken. Was jetzt herunterkam, war weniger Schnee als Eisregen und der Wind, der ihn trieb, war erbarmungslos.
Krähe musste Stellen weit draußen über dem Wasser anpeilen, um ihre Flugbahn über der Arche beizubehalten – und Emma, die schreckliche Angst vor
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