Die letzte Flut
jetzt ganz ansehnliche Zähne, und gegen diese Zähne führte Mottyl andauernd Krieg – sie biss die Kätzchen ins Ohr und drückte mit den Krallen fest auf die Unterseite ihrer Kiefer – manchmal musste sie sogar ihre Lippen durchstechen. Auch ihre eigene Ernährung litt unter dem Mangel an Mäusen und ihr war bewusst, dass sie immer schwächer und für Erkältungen und eiternde Wunden anfälliger wurde.
Als sie vier oder fünf Stunden ununterbrochen nach ihrem Kätzchen gesucht hatte, raste es in ihrem Kopf, doch ihr Körper war vor Erschöpfung fast erstarrt. Immer öfter musste sie sich ausruhen – bis sie schließlich kaum noch aufstehen konnte, um die Rückkehr in ihren eigenen Gang anzutreten.
Bip bemerkte: »Wenn du uns hier herausholen könntest, würden wir dir helfen.«
Aber Mottyl konnte sich nicht einmal aufraffen, dieses Angebot anzunehmen. Bip und Ringer waren ganz weit drüben auf der anderen Seite des Schachts und der bloße Gedanke an den langen Weg hinüber, um sie zu befreien, ließ Mottyl erschauern.
Warum kann ich mich nicht bewegen?
Du bist zwanzig Jahre alt. Du bist am Verhungern. Du hast Würmer, Flöhe, Milben und einen Abszess hinter dem Ohr und einen weiteren an der Hüfte. Du hast eine angebrochene Rippe, die nicht heilen will. Du hast einen Bänderriss, einen verdrehten Darm und leidest unter völligem Vitaminmangel. Du bist blind. Du wirst taub. Du bist in einen Nagel getreten. Hörst du nicht, wie du atmest? Womöglich stellt sich eine Lungenentzündung ein. Du bist teilweise ausgetrocknet und wir schlagen vor, dass du als Erstes – falls und wenn du wieder aufstehen kannst – Wasser trinkst. Du bist besorgt und deprimiert und hast zu wenig rote Blutkörperchen. Du leidest darüber hinaus unter Sauerstoffmangel und hast ein schwaches Herz. Noch dazu Rheuma im linken Hinterbein und etwas in der Leber, was wir nicht beschreiben können, denn es hat sich noch nicht zur Gänze bemerkbar gemacht. Und du fragst, warum du dich nicht bewegen kannst? Wir nehmen an, dass du auch nicht mehr bei Sinnen bist.
Danke für den Vortrag. Jetzt sagt mir, wie ich aufstehen soll!
Wir können dir nicht sagen, wie du aufstehen sollst. Tatsache ist einfach, dass du nicht kannst. Was du tun kannst, ist, nach Krähe rufen.
Warum?
Stell keine unnützen Fragen! Rufe nach Krähe!
»Krähe!«
Mottyls Stimme war viel zu schwach, um weiter als nur wenige Meter in einer Richtung vernehmbar zu sein – aber sie trug über den Schacht. Bip hörte sie.
»Krähe!«, rief er – und aufgrund seiner angeborenen Fähigkeit, sich über große Entfernungen Gehör zu verschaffen, war es Bip in kürzester Zeit gelungen, das ganze Deck mit dem Echo seiner Stimme zu füllen. Als Mrs Noyes ihn hörte, hatte sie das Gefühl, auf ihre Veranda mit Ausblick aufs Tal zurückversetzt zu sein.
»Krähe! Krähe! Krähe!«
Es dauerte nicht lange und Krähe kam angeflogen; ihre Flügel knacksten und ihre Kopfschmerzen waren so schlimm wie noch nie.
»Hol uns hier raus!«, rief Bip. »Nur Ringer und mich. Wir können helfen – genau wie die, die im Finstern sehen können.«
Krähe machte sich gleich auf zum Lemurenkäfig. Unterwegs ließ sie schnell ein paar Schlangen, die Wombats und die Nachtschwalben frei und bald schon trippelten Füße und flatterten eifrige Flügel durch die Gänge. Die Eulen allerdings, deren Fähigkeit, bei Nacht hervorragend zu sehen, sie unter diesen Bedingungen zu großartigen Detektiven gemacht hätte, wurden wegen ihres riesigen Hungers abgewiesen. Vielleicht hätte ein Uhu oder die Schnee-Eule das silberne Kätzchen gefunden – aber Mottyl und Krähe waren nicht darauf aus, eine Leiche zu entdecken.
In der Zwischenzeit hatten sich Luci, Ham und Mrs Noyes in der Kombüse versammelt, wo die Glut im Herd zumindest ein bisschen Licht und viel Wärme spendete. Ihre Oberbekleidung – Rupfen und Handgewebtes – hatten sie über die Stuhllehnen gebreitet und die Stühle wegen der Hitze zum Feuer gedreht. Die Kombüse roch wie eine Küche im Winter – mit Tee, der in einer Kanne zog, einem großen Topf Polenta und dem nassen Geruch von Hanf, Wolle und angesengter Baumwolle.
In den letzten Wochen hatte Luci ihre Faszination für Bienenvölker entdeckt. Die Bienenkörbe, die Hannah geflochten hatte, waren aus seildicken Strohzöpfen und in der Form konisch; jeder Korb war eineinviertel Meter hoch. Am unteren Teil befand sich jeweils ein kleines halb rundes Loch, durch das die Bienen
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