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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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Wir dürfen unseren Vorteil nicht aufs Spiel setzen.«
    Während Luci und Ham sich an den Seilen zum Kastell vorarbeiteten, gingen Mrs Noyes und Emma in den Laderaum hinunter und setzten sich auf die unterste Stufe; Mrs Noyes hielt Krähe immer noch im Arm.
    »Ist sie tot?« Mottyls Stimme war so trostlos wie die Worte, die sie sprach.
    »Ja«, sagte Mrs Noyes. »Sie ist tot.«
    »Dürfen wir sie dann haben?«
    »Ja.«
    Mrs Noyes stand auf und ging mit Krähe in den Stall, wo es einigermaßen ruhig und warm war.
    »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Ich kann nicht bei euch bleiben und trauern, aber – was auch geschieht – irgendwie komme ich wieder, Motty. Wir kommen alle wieder.«
    Sie kniete sich hin und legte Krähe auf das spärliche Stroh bei den Kühen, in der Annahme, sie würden sie warm halten – auf die seltsame, irrationelle Art der Menschen: Sie stellten sich die Toten nicht tot, sondern irgendwie wärme- und zärtlichkeitsbedürftig vor.
    Mottyl kam an, von Bip geführt, Ringer und die Wombats im Schlepptau, und sie setzte sich vor Krähe hin, die – mit aufgerichtetem Schwanz zum Zeichen, dass sie da war – aussah, als liege sie in ihrem Nest. Mrs Noyes strich Mottyl zärtlich über den Kopf und wollte gehen.
    »Welche Nachricht gibt es von meinem Sohn?«, fragte Mottyl mit monotoner Stimme.
    Mrs Noyes sagte: »Keine.«
    »Bring ihn bitte zurück!« Mottyl schloss die Augen.
    »Ja«, sagte Mrs Noyes. »Ich werde ihn zurückbringen.« Und eilte davon, um sich den anderen anzuschließen.
    »Kommst du mit mir?«, fragte sie Emma. »Oder willst du hier warten?«
    »Ich will hier warten«, sagte Emma. »Aber ich werde mit dir mitgehen.«
    Mottyl wünschte inbrünstig, dass sie ihre Freundin wenigstens einen Augenblick sehen könnte. Aber vor ihren Augen – ganz gleich, ob offen oder geschlossen – war nichts: nur das Schwarz ihrer Blindheit.
    »Ist sie da, Bip?«
    » Ja.«
    »Ist sie wirklich tot?«
    »Ja.«
    »Hat man ihr sehr wehgetan?«
    »Da ist eine Schramme, die sich über ihren ganzen Kopf zieht.«
    Mottyl dachte darüber nach.
    »Sind ihre Flügel noch in Ordnung?«
    »Oh, ja.«
    »Ist ihr Schwanz noch da? Ist er nach oben gerichtet?«
    »Ja. Ja.«
    »Sind ihre Augen noch im Kopf?«
    »Ja, das auch.«
    »Und ihr Schnabel? Ist er beschädigt?«
    »Nein.«
    Mottyl kauerte jetzt in Trancehaltung, das Gesicht ihrer toten Freundin zugewandt.
    »Es ist viel gestorben worden«, intonierte sie. »Nicht wahr?«
    »Ja«, sagte Bip leise.
    »Glaubst du, dass mein Kind tot ist?«
    »Das kann ich nicht sagen. Ich weiß es nicht.«
    »Ich glaube, dass es tot ist.«
    »Es tut mir Leid.«
    »Lass es dir nicht Leid tun«, sagte Mottyl zu ihrem Freund. »Das ist hier unser Los. Schließlich – sind wir nur Tiere.«
    Dann verfiel sie in Trance und trauerte, ihr Körper und ihr Geist waren nicht mehr erreichbar.
     
     
    Im Kastell wurde die Große Revolution der Unteren Schichten in einem einzigen Handstreich gewonnen.
    Luci – die zuerst hineinging – entdeckte, dass Noah und Hannah noch in der Kapelle waren, zusammen mit Jahwes Katzen.
    Sie brauchte nur die Tür zuzumachen und sie zu verriegeln.
    Sem dagegen war – soweit man sehen konnte – verschwunden.
     
     
    Wachen wurden aufgestellt.
    Ham übernahm die erste, er bezog im Salon Position, im Lichtschein wohltuender Kerzen, und mit einem doppelt gestrickten wollenen Umhang aus der Sammlung seines Vaters.
    »Wirst du auch nicht einschlafen?«, fragte Luci. »Das kommt mir alles viel zu bequem vor.«
    »Ich schwöre es«, sagte Ham. »Ich will nur all dieses Licht genießen. Ich würde nicht im Traum daran denken, die Augen zu schließen.«
     
     
    Luci sagte es Mrs Noyes und Mrs Noyes gab es an Mottyl weiter. Der kleine silberne Kater war tot.
    Mottyl hatte nur einen Gedanken: Noch ein Experiment, danke… und sah Doktor Noyes’ Hand vor sich, die sich in ihr Nest vortastete – in all ihre Nester, für immer und ewig –, dieses herausnahm und jenes – dieses Auge und jenes Auge – diese Ohren und jenen Schwanz – das Hirn von diesem und die Hoden von jenem – den Kopf von diesem, den Darm von jenem – diese Farbe, jene Farbe, weiß und rot, silbern und dreifarbig… niemals, niemals, niemals, niemals…
    Niemals würde es aufhören.
    Mottyl stand auf – langsam – schmerzerfüllt – wie jemand, der zu lange geschlafen hatte.
    »Wo gehst du hin?«, fragte Mrs Noyes – ganz leise und ängstlich, nicht forschend.
    Mottyl zögerte – ziemlich

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