Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
Vom Netzwerk:
jeder Art von plötzlichem Tod hatte, klammerte sich mit beiden Händen an den Seilen fest, schloss die Augen und ging einfach los.
    Wie ein Skifahrer an einem Berghang fegte sie über die Länge des Decks, ohne jemals das Seil loszulassen, ohne überhaupt die Stellung ihrer Füße zu verändern. Auf halbem Weg zu ihrem Ziel machte sie die Augen auf, und während sie sich dem Schutz des Portikus über den verbarrikadierten Türen näherte, brüllte sie an gegen die tobende Stimme des Sturmes: »Achtung! Achtung! Ich komme!« Als würde die Barrikade sich erheben und zur Seite weichen.
    Aber die Fahrt über das Eis hatte auch etwas Berauschendes – und als sie sich aufrichtete, hoffte Emma, dass es irgendwann Gelegenheit gäbe, das noch einmal zu erleben.
    Angesichts dessen, was sie nun zu tun hatte, war ihre Hoffnung darauf allerdings gering.
    Krähe hatte einen Platz im entferntesten Winkel des Portikus ergattert, wo es mehr oder weniger windgeschützt war. Zitternd saß sie da und drängte Emma: »Schnell! Schnell!«
    Emma betrachtete das Durcheinander von Brettern und Stangen und Ketten und hatte keinerlei Ahnung, wie sie das alles beseitigen sollte. Als sie sich Rat suchend an Krähe wandte, erhielt sie als Antwort nur: Schnell, schnell – und das half ihr nicht weiter.
    Auch der Wind war ihr keine große Hilfe, denn er peitschte ihr die Decke über den Kopf, wodurch sie nichts sehen konnte, und hob ihre Röcke hoch, so dass sie an den Beinen fror. Schließlich wurde die kostbare Decke, die sie doch warm halten sollte, so unangenehm für ihre Augen, dass sie sie von den Schultern riss. Gerade als sie die Decke beiseite legen wollte, bemerkte sie, dass ihre vom Wind gepeitschten Enden zerfetzt waren. Ihr fiel ein, dass sie diese Fetzen abreißen und sich um die Hände wickeln könnte, damit wenigstens ein Teil ihrer Extremitäten warm bliebe.
    Der Stoff der Decke – vor langer Zeit hatte Schwester Hannah sie in den sonnengetränkten Höfen auf dem Berg gewebt – war fest und für einen einfachen Sterblichen nur mit Mühe zu zerreißen – der Wind hatte allerdings keine Probleme damit. Die Stärke der Fetzen brachte Emma auf eine andere Idee – oder vielmehr erinnerte sie an eine alte Vorrichtung, auf die ihre Mutter zurückgriff, wenn sie schwere Gegenstände tragen musste, die entweder zu unhandlich waren, um von menschlichen Händen getragen zu werden – oder zu scharf. Man fertigte zu diesem Zweck Tragriemen und Emma hatte gelernt, wie man Steine und Eimer voll kochend heißem Wasser, deren Tragbügel in ihre Kinderfinger geschnitten hätten, mit den Tragriemen befördert.
    Emma sah sich die Bretter an, welche die äußere Fassade der Barrikade bildeten. Sie wählte eine Stelle aus, ganz in der Nähe des Punktes, wo sie angenagelt waren, zog die Reste der Decke durch und um das oberste Brett und begann zu ziehen, wobei sie die Füße gegen die Tür stemmte.
    Zuerst gaben die Bretter nicht nach. Aber Emma war stark. Sie hatte sich all die Jahre hindurch als Holzfäller versucht und den großen blonden Brüdern nachgeeifert. Immer wieder stemmte sie sich gegen die Tür – jedes Mal setzte sie ihr ganzes Körpergewicht und jedes Quäntchen Kraft in Armen, Schultern und Beinen ein, bis – endlich – ein Nagel nachgab und dann noch einer und noch einer. Das erste Brett war an einem Ende frei – und bald hatte sie es auch am anderen Ende geschafft.
    Als sie das erste Brett abgenommen hatte, ging es mit dem zweiten leichter, weil sie nicht nur die Decke zum Ziehen hatte, sondern ihr das Brett auch als Hebel diente.
    Zwei Bretter waren geschafft und nun galt es, noch der Ketten und Stangen Herr zu werden.
     
     
    Im Laderaum kauerten Mrs Noyes, Luci und Ham auf der obersten Treppenstufe, bereit zu schieben, sobald sie den Befehl dazu von der anderen Seite vernahmen. Die ganze Zeit über riefen sie Emma ermutigende Worte zu und Emma rief zurück, sie würde es »versuchen«.
    Mottyl, Bip, Ringer und die anderen saßen auf einer Stufe weiter unten und warteten auf ihre Befreiung. Es war ihnen im Moment noch gleichgültig, ob sie – falls dieser Aufstand so enden sollte wie der erste, nämlich als Niederlage – über Bord geworfen würden, so wie die Dämonen. Und auch Mottyl war es mittlerweile ziemlich egal, ob sie versteckt wurde – oder ob ihre Kätzchen versteckt wurden. Du kannst dich nicht ewig verstecken, beschloss sie. Doktor Noyes und Japeth würden dort hinter diesen Türen auftauchen, ganz

Weitere Kostenlose Bücher