Die letzte Flut
gleich, wer sie öffnete – und dieser Tatsache konnte man ebenso gut jetzt wie später ins Gesicht sehen.
Bip und Ringer waren schon seit Beginn der Fahrt nicht mehr frei gewesen und sie empfanden es zuerst als etwas einschüchternd. Die enorme Größe der Arche überwältigte sie. »Hier drinnen könnten wir fast Bäume pflanzen«, bemerkte Bip. »Wir könnten fast einen neuen Wald gründen – hier an Bord.«
»Ich hätte lieber einen echten Wald, danke«, antwortete Ringer. »Ich würde lieber die Sonne sehen.«
Jetzt hatte Emma nur noch Ketten zu bewältigen. Sie benutzte eine der Eisenstangen als eine Art Winde, steckte sie durch die Ketten, drehte sie Hand über Hand, bis die Ketten so stark angezogen waren, dass sie einen Ruck in den riesigen Nägeln fühlen konnte, mit denen sie an beiden Enden befestigt waren.
»Ich hab’s! Ich hab’s!«, rief sie durch die Türen. »Sie lösen sich! Sie lösen sich!«
Doch genau in diesem Augenblick – als sie dem Sieg so nahe war, dass sie im Geist sehen konnte, wie die Ketten weit hinaus über das Wasser geschleudert wurden – schlug das Schicksal grausam zu.
Japeth, der das dringende Bedürfnis zu urinieren verspürte und sich von seinem blutbefleckten, juckenden Bett erhoben hatte, war in den Sturm hinausgetrampelt, nur mit seiner dreckigen Tunika bekleidet. Er hob schon den Rock und begann den Wind zu besprengen, als er Emma erblickte und mit einem großen Wuuummm über das Deck schlitterte – barfuss auf dem Eis Schlittschuh lief.
Er hatte keine Waffen zur Verfügung außer seinen Händen – aber diese hätten normalerweise für Emma genügt. Angesichts der Umstände – Sturm, Eisregen, Eis am Boden und seine fast völlige Nacktheit – befand er sich allerdings stark im Nachteil.
Trotzdem versuchte er sich auf sie zu stürzen und sie wegzuziehen – mit ihr von den Türen wegzurutschen. Aber er verfehlte sie – und rutschte bis zur Reling gegenüber, wo er fast über Bord ging. Seine von Wunden übersäten Beine und von der Nesselsucht bedeckten Arme und sein Rücken ließen ihn vor Schmerz aufschreien, als er gegen die Reling und die Seile prallte.
Es kostete ihn furchtbare Überwindung, sich zum nächsten Angriff auf Emma bereitzumachen – aber er fand eins der weggeworfenen Bretter und schaffte es damit, wieder auf die Füße zu kommen und zu einer Stelle hinter ihr zu gelangen, von wo aus er mit dem Brett auf ihre Schultern einschlagen konnte.
In diesem Augenblick flog Krähe nieder, direkt auf Japeths Augen zu; sie schlug mit den Flügeln, legte sich in der Luft etwas auf die Seite und hob die Füße an, damit sie ihn sowohl mit den Krallen als auch mit dem Schnabel angreifen konnte. Doch der Wind arbeitete gegen sie und so wurde sie zu Emma zurückgetrieben.
Japeth griff an – hob das Brett noch einmal – nicht über den Kopf, sondern seitlich, so wie Emmas Brüder eine Axt geführt hätten – und das gab Krähe wieder Gelegenheit, auf sein Gesicht zuzusteuern, das sich ihr jetzt ganz darbot. Japeth brüllte noch immer – vor Schmerz und Wut – wie wahnsinnig.
Dieses Mal flog Krähe direkt über ihn und ließ sich dann wie ein großer schwarzer Stein fallen, wobei sie die Flügel anlegte und ihre gelben Krallen ausstreckte.
Bamm!
Das Brett traf sie mit voller Wucht.
Krähe.
Emma schrie – und schwang die gerade frei gewordene Kette mit den Händen über ihrem Kopf, schleuderte sie mit einem breiten Schwung nach unten, der Japeth auf der linken Seite traf und ihn mit einem lauten Knall zu Boden warf, wo er wiederum auf die offene Reling zuschlitterte. »HILFE!«, brüllte er.
Emma rutschte zu den Türen zurück und riss sie auf; sie wusste nicht einmal, dass sie heulte; sie wusste nicht einmal, dass sie aus Wunden blutete, an deren Entstehung beim Kampf gegen die Barrikade sie sich nicht erinnern konnte. Ihr war nur bewusst, dass sie wieder in Sicherheit war, mit den einzigen Leuten auf der Welt, die sie liebte.
Ham und Luci gelang es, Japeth vor dem Ertrinken zu retten; sie sperrten ihn mitsamt seinen Schmerzen und Waffen in das Arsenal. Dann gingen sie zu Mrs Noyes, die Krähe im Arm hielt, die Flügel der großen Vogeldame faltete, ihre gelben Füße an den Körper zog und ihre Augen schloss.
»Lasst mich sie zu Mottyl hinuntertragen«, sagte sie. »Bitte.«
Luci warf einen Blick aufs Kastell und sah, dass es dort keine Anzeichen irgendeiner Reaktion gab. Sie nickte Mrs Noyes zu, sagte aber: »Mach schnell.
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