Die letzte Flut
verwirrt –, die Fremdheit des sie umgebenden Raums überwältigte sie plötzlich.
Wo war die Veranda? Wo war der Hof? Das Feld? Der Wald?
Wir haben soeben Krähe in ihrem Nest zurückgelassen. Wo sind wir?
Nichts.
Sagt mir – wo sind wir, Flüsterstimmen? Sind wir nicht im Wald?
Nichts.
»FLÜSTERSTIMMEN?«, schrie Mottyl. »FLÜSTERSTIMMEN!« Nichts. Keine einzige Reaktion. Sie waren weg.
»Mottyl?«, sagte Mrs Noyes. »Motty?« Sie war mehr als nur beunruhigt. Sie war in Panik.
Bip ging an der Frau vorbei und setzte sich auf den Hinterbeinen neben die Katze.
»Bist du es, Bip?«
»Ja.«
»Ich versuche aus dem Wald heraus- und den Berg wieder hinaufzukommen. Dort habe ich meine Kätzchen.«
»Ja. Das merke ich. Du fütterst sie.«
»Welchen Weg muss ich nehmen? Ich hab’s eilig. Schnell!«
»Ich kann dich führen«, sagte Bip zu ihr. »Komm! Ich zeig dir den Weg.«
Er trat vor sie hin und hob den Schwanz ganz hoch – ganz gerade nach oben –, damit Mottyl seinem Geruch folgen konnte.
Als sie ging, hielt Mrs Noyes die Laterne, die sie aus dem Salon gestohlen hatte, höher und sah, dass der Stall ringsum mit schweigenden Tieren gefüllt war; alle schauten zu ihr hin.
Mottyl war in ihrem Nest. Ihre Kätzchen schliefen. Bip und Ringer saßen da und warteten. Ringer flüsterte: »Meinst du, sie wird sterben?«
»Möglich.«
Ringer überlegte: »Sollten wir sie nicht allein lassen, wenn sie sterben wird?«
»Nein. Wir müssen bei ihr wachen – weil sie blind ist. Und ich glaube, sie weiß nicht, wo sie sich befindet.«
Mottyl konnte das Gespräch hören, aber es kümmerte sie kaum noch, was da geredet wurde. Sie ließ sich treiben – wie alle Tiere, die dem Tode nahe sind – wenn der Tod nicht durch Gewalt herbeigeführt wird – wenn Raum, durch den man sich treiben lassen kann, da ist – und Zeit.
Mottyl lag in der Sphinxhaltung da: die Pfoten nach vorne gestreckt – den Kopf leicht angehoben – die blinden Augen offen und starr. Den Schwanz hatte sie fest an ihre Seite gelegt und ihr Körper war so angespannt, dass jeder Nerv und jede Bahn, durch die sich ihre Flüsterstimmen bewegt hatten, zu spüren waren. Sie wartete auf die Flüsterstimmen. Vergeblich.
Stattdessen ereignete sich, während Mottyl sich so treiben ließ, ein Zusammenspiel von weißem Rauschen und Zittern. Bip konnte sehen, wie es unter Mottyls Haut zu zucken anfing – einige Zuckungen waren regelrechte Spasmen – andere lang gezogene, sanfte Botschaften, die durch das ganze Netz der Nervenbahnen, von einem Ende von Mottyls Körper zum anderen gesendet wurden. Und dann – ganz plötzlich, nach einem letzten Zucken ihrer Rückenmuskeln, das aussah, als wolle sie ein lästiges Insekt loswerden – wurde sie ganz ruhig und begann zu singen.
Der Gesang war kehlig und voll und das Lied hatte eine Melodie und viele Noten. Nie zuvor hatten Bip und Ringer einen solchen Gesang vernommen, dennoch erkannten sie, was er bedeutete, denn fast jedes Tier hat ein Lied, das es in der Stunde des Todes singt – oder vielmehr Lieder, die an den Tod gerichtet sind.
Der Inhalt von Mottyls Lied war nur ihr selbst bekannt. Ihre Kinder, ihre Krähe und ihre Flüsterstimmen waren alle vor ihr gestorben. Und jetzt würde die Welt sterben. Ihr Lied war eine Beschreibung dieser Welt – die Welt, in die Mottyl geboren wurde und in der sie gelebt hatte. Es beschrieb auch all ihre Kätzchen und die verschiedenen Geburten im Laufe der Zeit und die Farben und Markierungen ihrer Jungen. Es beschrieb Mottyls Mutter und Mottyls eigene Geburt und Mrs Noyes und die Veranda, wo sie an Sommerabenden gesessen hatten. Es beschrieb den Schaukelstuhl, seine Größe, seinen Geruch, sein Alter und das Geräusch, das er von sich gab. Es beschrieb die Stelle, an der Mottyl die meisten Abende im Schatten der Trompetenwinde gelegen hatte, und es beschrieb die Gerüche, die sie dort umgaben – den Geruch des Staubs – den Geruch des Gins und den Geruch der Blumen und Kräuter. Es erzählte von allen Mäusen, die sie getötet und gefressen hatte. Es erzählte von der Milch, die sie getrunken hatte – und von Brühe und von Wasser. Es erzählte vom Wald und von der Stelle, wo die Katzenminze hoch über die Kamillen wuchs, und es erzählte von kaputten und von heilen Zaunbrettern – von Stellen, die man vermeiden sollte, und von Pfaden, von denen aus man den Wald betreten und verlassen konnte. Es erzählte von Krähe. Es erzählte von Pfeifer.
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