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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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Es erzählte von der Füchsin und vom Stachelschwein. Es erzählte von Japeths Wölfen an ihrem Tor. Es erzählte von Dämonen, Drachen und anderen Gefahren und es erzählte von der allergrößten Gefahr überhaupt: Von Doktor Noyes.
    Die Welt, deren Lobes- und Leidenslitanei der Gegenstand ihres Liedes war, war auch die Welt, die sie jenseits ihrer Blindheit im Geiste wahrnahm. Es war die voll hellem Licht und dichten Schatten gezeichnete Welt voll grünen und gelben Lebens, die sie vom Tag ihrer Geburt an gesehen hatte. Sie war voll von staubigen Höfen und hohen grünen Feldern und anderen Feldern, die gemäht und gelb waren. Sie war weiß, droben am Himmel, und all die Stellen im Wald waren silberfarben und blau und braun. Sie wimmelte von Leben – war voller Energie – immer in Bewegung – und alles rief ihr zu:
    War es nicht herrlich hier!
    Ade. Ade.
    Das hohe Gras teilte sich – und was da vor ihr lag, war der gemeinsame Nenner von allem: Lebendiges. Niemand würde jemals erfahren, was sie gesehen hatte – dass sie die letzten Dinge der vergangenen Welt gesehen hatte: der Welt, wie man sie nie wieder würde sehen können. Im Geist der blinden Mottyl erstand die letzte vollständige Vision der Welt, bevor sie ertrank.
    Verschwand, jetzt.
    Unterging.
    Für immer.
     
     
    »Mottyl?«
    Es war Luci.
    »Mottyl?«
    Bip und Ringer kauerten im Schatten und warteten.
    Luci streckte ihre Hand ins Nest und berührte Mottyl an der Seite.
    »Wach auf!«
    Da rührte sich etwas.
    »Hühnerbrühe, Mottyl. Da.«
    Mottyl murmelte: »Hallo.«
    Bip setzte sich wieder auf.
    »Gut«, meinte er. »Es gibt sie noch.«
    Ringer rollte sich zusammen – und schlief.
    Mottyl senkte ihr Kinn, ganz langsam, zur Schüssel hin und trank.
    Es war gut.
     
     
    Als der Sturm abflaute, hinterließ er einen Rest treibender Winde und dicker gelber Wolken, die sich in der Richtung davonschlichen, wo zu anderen Zeiten die Berge Aleph, Beth und Gimel einen erkennbaren Horizont gebildet hatten. Jetzt gab es – auf allen Seiten – nur noch eine dünne schmutzige Linie, die sich wellenförmig zwischen Wasser und Himmel bewegte, als würde der Horizont selbst eine Definition suchen.
    Unter Deck waren die Laternen, die seit so vielen Tagen nicht angezündet worden waren, wieder an den Decken aufgehängt, und Luci ging mit einer Kerze von Lampe zu Lampe und schuf Staubaureolen inmitten der Finsternis.
    Mrs Noyes, die gewartet hatte, bis Emma ihre Geschichte erzählt hatte und eingeschlafen war, schloss die Tür zur winzigen Zelle hinter sich und stand jetzt im schmalen Gang, eine Hand an jede Wand gestützt, im Versuch, ihr Gleichgewicht zu wahren. Die Euphorie des Sieges wich schnell der altbekannten Erschöpfung und Mrs Noyes sehnte sich danach, sich an Ort und Stelle fallen zu lassen – auf dem Boden zusammenzusacken und mit dem Rücken gegen die Wand eine Woche zu schlafen. Aber das konnte nicht sein. Sie wusste, dass sie auf den Füßen und wachsam bleiben musste. Sem hatte man noch nicht ausfindig gemacht, und solange er auf freiem Fuß blieb, war die Gefahr für sie noch nicht vorüber, obwohl sie sich fragen musste, was sie vom Ochsen zu fürchten haben sollten: Er war so fügsam geworden.
    Trotzdem: Sicherheit geht vor.
    Was auch immer »Sicherheit« bedeutete.
    Nun – wir können zumindest die Lampen anzünden, dachte sie, während sie Luci zuschaute. Und wir können zumindest wieder frisches Wasser trinken und wieder frei atmen – herumgehen, in aufrechter Haltung, auf den oberen Decks spazieren und in normaler Lautstärke miteinander sprechen.
    Und Mottyl… Sie brauchen wir jetzt nicht mehr zu verstecken. Obwohl sie selber inzwischen angefangen hatte, sich in ein Versteck zurückzuziehen. Wir müssen ein Auge auf sie haben, beschloss Mrs Noyes. Sie darf nicht aus Trauer denselben Weg gehen wie die Dame.
    Mrs Noyes tappte den Gang entlang, ging unter den Lampen hindurch und streckte die Hand aus, um aus reinem Vergnügen jede Einzelne zu berühren. »Hallo! Hallo! Hallo!«, sagte sie.
    Zu den Lampen. Zu dem Licht.
    Die Dunkelheit des unteren Decks war schrecklich, wie immer, und als Mrs Noyes an den verschiedenen Verschlägen und Boxen vorbeiging, legte sie die Hand an das Gitter der Käfige, damit die Tiere sie riechen konnten, damit sie wüssten, wer vorbeiging. »Ich bin’s nur«, sagte sie mit möglichst heller Stimme. »Ich bin’s nur…«
    Selbst mit ihrer Laterne konnte sie kaum etwas erkennen, aber das war eigentlich

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