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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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sich auf ihre Existenz einstellen. Ging man zum Beispiel in den Wald, war man automatisch doppelt aufmerksam – ebenso wie beim Betreten eines offenen Feldes oder eines Zimmers, in dem Doktor Noyes sich aufhielt. Im letztgenannten Fall könnte man – wie bei Drachen und Dämonen – sagen, dass man die Aufmerksamkeit sogar verdreifachte.
    In dieser Nacht – in der Mottyl die Feen oben beim Haus schon gesehen hatte – erblickte sie diese ein zweites Mal, als sie den Wald betrat. Sie glitten zwischen den Bäumen hindurch – verspeisten vielleicht Mücken und andere Insekten –, und ihre Lichter leuchteten sehr hell. Zu ihren Feinden gehörten Fledermäuse und Spinnweben. Eine Spinne bedeutete für die Feen den sofortigen Tod, sie erstickten in ihren Netzen.
    Mottyl fragte sich, warum die Feen so hektisch waren. Meistens waren sie viel gelassener, geradezu phlegmatisch – oft konnte man ganze Gruppen von ihnen sehen, die sich mit gedämpften Lichtern und verhaltenen Stimmen friedlich ausruhten. Aber nicht heute. Heute waren sie überall.
    Man hielt die Lemuren für die Wächter des Waldes – und keiner passierte die Zäune, ganz gleich in welche Richtung, ohne von den Lemuren in ihren Bäumen genau inspiziert zu werden. Wenn man den Wald betrat beziehungsweise verließ, waren sie entweder still oder attackierten einen mit ihren Schreien. Wenn Mottyl kam, verhielten die Lemuren sich ruhig, nur ein oder zwei grüßten sie und manchmal fand – je nachdem, welche Signale Mottyl aussandte – eine scherzhafte Neckerei oder eine Verfolgungsjagd statt. Aber nur bei Tag. Bei Nacht wurde jeder, der den Wald betrat, mit äußerster Vorsicht und Ernsthaftigkeit begrüßt. Niemand machte jemals Witze oder ging Risiken ein, wenn es ringsherum finster war.
    Der Lemur, der sie heute vorbeiließ, war ein Ringelschwanzkatta namens Bip. Mottyl kannte Bip schon so lange er lebte und konnte sich noch an seine Mutter erinnern. Bip war jetzt etwa sechs Jahre alt. Er saß auf dem untersten Ast einer Pappel, den Schwanz um den Ast daneben gewickelt. Er sprang herunter, beschnupperte Mottyl vorn und hinten gründlich und zuckte dabei behutsam mit seiner spitzen Schnauze.
    »Du bist läufig.«
    »Vielen Dank für die Information.«
    »Allerdings noch nicht ganz, wenn ich das so sagen darf.«
    »Du darfst. Es stimmt. Ich habe es erst seit zwei oder drei Tagen – und finde es sehr lästig.«
    »Es ist nicht die allerbeste Zeit dafür. Ich bin froh, dass Ringer nicht läufig ist.« (Ringer war Bips Weibchen.) »Irgendetwas stimmt hier nicht in der Gegend. Hast du es auch schon gespürt?«
    »Ja. Man merkt es auch bei den Menschen. Sie sind sehr nervös und angespannt. Hast du von Japeth gehört?«
    Ja, Bip hatte es gehört. Die Wölfe hatten davon geheult. »Und er ist blau?«
    »Ja. Und die Feen benehmen sich so seltsam.« Mottyl erzählte ihm, wie sie hinaufgekommen und ums Haus geflogen waren.
    Bip war nicht überrascht. Die Feen hatten sich im Wald auch so eigenartig verhalten: Sie waren zum Beispiel zu nahe herangeflogen – waren mit Vögeln zusammengestoßen – hätten Bip fast von seinem Ast hinuntergeschubst.
    »Wer hält sich denn in den Zufluchtsstätten auf?«, wollte Mottyl wissen.
    »In einer ist ein Bär. Keiner von den unseren. Ein Bär aus dem Forst. Er ist mit einem gebrochenen Bein über den Fluss gekommen. In einer anderen sind ein paar Hirsche und einige Mäuse und das war’s. Das Übliche. Aber da ist noch was anderes…«
    Mottyl sah Bip an, dass er sich Sorgen machte.
    Bip zupfte einen Floh von seinem Bauch und verspeiste ihn. »Es ist ein… Wesen.« Er schaute über Mottyls Kopf hinweg.
    »Ein Geist, meinst du?«
    »Nein. Kein Geist. Eher ein…«
    »Hallo!«
    Mottyls Herz blieb vor Schreck beinahe stehen – aber es war nur Ringer, die sich durch die Äste auf sie zuschwang. Als sie bei ihnen war, sprang sie neben Bip.
    »Wo bist du gewesen?«, wollte Bip wissen – und fing sofort an, ihre Pfoten zu untersuchen und ihre Flanken zu beschnüffeln.
    Ringer erzählte, wie sie auf die andere Seite des Waldes gegangen war. »Ich wollte wissen, ob dort jemand etwas mehr über das neue Wesen weiß…«
    »Wir haben gerade angefangen, darüber zu reden«, erklärte Bip.
    »Hat Mottyl etwas dazu gehört?«
    »Nein.« Mottyl hatte sich entschieden, Jahwes Besuch nicht zu erwähnen. Die Gegenwart dieses anderen Wesens war zu faszinierend.
    Bip hakte bei Ringer weiter nach. »Auf der anderen Seite des Waldes. Hat jemand

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