Die letzte Flut
ist Doktor Noyes.«
Mottyl stand auf. Es war ein so schöner Abend – ganz still, der Himmel hoch und klar, die Luft duftete nach Äpfeln, aber auch nach Gras und Bäumen und Geburt. Jetzt war sicher, dass es eine Kuh gewesen war. Und nun, wo die Sonne wirklich weg und die Nacht im Anzug war, verströmte auch die Erde selbst dunklere Düfte, den Geruch von Würmern und von den Nachtgeschöpfen, die aus der Tiefe des Bodens nach oben kamen.
Nachdem auch die Kuh vom Mutterkuchen gefressen hatte, zog sie mit ihrem Kalb zum Waldrand, wo es für das Kleine wärmer war. Ein Stachelschwein eilte am Zaun entlang und hoffte, nicht gesehen zu werden, während die Habichte, die sich an der Nachgeburt gütlich getan hatten, von den Raben abgelöst wurden. Die Wiese wechselte langsam die Besitzer, während Mottyl sich durch die Dunkelheit zum Wald aufmachte.
Am Waldrand, da, wo der Zaun durch abgebrochene Äste beschädigt worden war, befanden sich Katzenminze- und Kamillenhaine. Mottyl konnte nicht widerstehen, sie hielt inne und naschte. Ihre Hinterfüße pflanzte sie in die Kamille und reckte sich hoch, um die jüngeren Blätter und Blüten der Katzenminze zu erreichen – sie drückte das Kinn an die Zaunbretter und presste die Blätter so, dass ihre Säfte flossen. Allmählich füllte sich die Luft mit dem angenehmsten Duft, den sie sich vorstellen konnte. Lange, flackernde Empfindungen prallten gegen ihre Nervenenden und zum ersten Mal seit Tagen war es ihr ganz gleichgültig, dass sie läufig war.
Manchmal verbrachte Mottyl eine halbe Stunde oder gar eine ganze Stunde bei den Katzenminzehainen und war danach fast so berauscht wie Mrs Noyes. Aber jetzt durfte ihr das nicht passieren. Denn sie wollte das Gemurmel des Waldes hören, Nachrichten über ihre Bekannten herausfiltern. Wussten sie von Jahwes bevorstehendem Besuch? Und wenn ja, wie reagierten sie darauf?
Am Waldboden gingen die Toten um; so glaubten zumindest manche Tiere, ohne aber etwas Morbides damit zu verbinden. Es war vielmehr ein Zeichen von Verehrung, Ehrfurcht. Einige Teile des Waldes waren heilig; andere Teile galten als heimtückisch. Manche heilige Stelle diente als Zuflucht, wo ein krankes oder verletztes Tier sich sicher fühlen konnte, auch wenn völlige Sicherheit nirgends garantiert war. Nur ein Narr könnte so etwas glauben. Doch die Zufluchtsorte boten mehr Sicherheit als andere Plätze und waren bekanntlich Drachen ein Gräuel. Was an den Pilzen lag, die dort wuchsen, deren Geruch – obwohl für alle anderen recht angenehm – bei Drachen so heftigen Brechreiz und so schreckliche Kopfschmerzen verursachte, dass sie sich kaum noch rühren konnten. Möglich war allerdings auch, dass die Pilze bei verletzten Tieren, die sich dort verkrochen, eine heilende Wirkung hatten. Gebrochene Gliedmaßen, gerissenes Fleisch und auf andere Weise nicht zu stillende Blutungen waren bekanntlich alle an einem Zufluchtsort geheilt worden, während andere Tiere – deren Wunden viel weniger gefährlich waren – vor ihrer Türschwelle verendeten. Mit der Zeit also betrachtete man die Pilze aus welchem Grund auch immer als die Geister der Toten, deren Knochen durch die Blätter hindurch- und in die Erde eingedrungen waren.
Die heimtückischen Teile des Waldes waren viel zahlreicher als die Zufluchtsstätten; Sümpfe, Treibsand und Gruben – Stellen mit Brennnesseln und Hornissennestern – plötzlich auftauchende Flächen mit rasiermesserscharfen Steinen und Spalten, die sich unversehens unter den Füßen auftaten und die Ballen mit rot glühenden Kohlen verbrannten. Am allerschlimmsten aber waren die Drachensuhlen. Manchmal vergruben sich die Drachen darin und ließen nur Augen und Schnauze hervorstehen, die beide derart mit roter Erdfarbe beschmiert waren, dass man sie überhaupt nicht wahrnahm. Drachen konnten so ewig auf der Lauer liegen und sogar die allerschnellsten Tiere – Lemuren und Affen – waren ihnen auf diese Weise in die Falle gegangen; sie hatten sich einfach in etwas verirrt, was sie für eine leere und harmlose Suhle hielten.
Mottyl hatte nicht mehr Feinde als andere Tiere, auch wenn es welche gab, die noch weniger aufweisen konnten. Wie jedes Wesen hatte sie eine gesunde Angst vor Drachen und Dämonen. Und jeder, dessen Kot nach Fleisch roch oder dessen Stimme ein Bellen oder Japsen war oder dessen Flügelweite einen größeren Schatten warf als ihr eigener – war ein Feind. Doch Feinde gehörten zur Natur und man musste
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