Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
Vom Netzwerk:
Schafe auf der Wiese.
    »Wir loben dich, wir preisen dich, wir beten dich an…«
    Worte, die Jahwe mit Sicherheit aufmuntern würden, dachte Noah – und er blickte zum Himmel hinauf, weil er einen Schatten gespürt hatte…
    Ach du meine Güte.
    Noch eine Taube.
    Schon wieder eine Katastrophe.
     
     
    Als Mottyl aufwachte, hatte die Hitze ihren Höhepunkt erreicht. Ihre Flüsterstimmen waren schon seit einer Weile wach und sie hatten ziemlich schlechte Laune.
    Dein anderes Auge wird auch erblinden, wenn du so in der prallen Sonne herumliegst.
    Tut mir Leid. Als ich eingeschlafen bin, war die Sonne da drüben.
    Na, steh auf!
    Mottyl rappelte sich auf. Eigentlich hatte sie keine Lust dazu, denn ihr war klar, dass sie, sobald sie wieder ganz wach war, der vollen Misslichkeit ihrer Lage ausgeliefert sein würde.
    Ich rieche eine Maus.
    Achte nicht darauf! Los, rühr dich!
    Ich fühle mich nicht wohl.
    Klage nicht über deinen Zustand! Über die Wirklichkeit zu klagen ist ein Zeichen für Unreife. Vergiss nicht: Du bist zwanzig Jahre alt und völlig in der Lage, mit dieser Situation fertig zu werden. Ob du uns jetzt wohl in den Schatten bringst?
    Mit Hilfe der einen, absolut identifizierbaren Landmarke – des Zaunes – berechnete Mottyl ihre Position; beim Weitergehen machte sie einen Umweg, um einem mürrischen Gürteltier auszuweichen.
    Es war jetzt später Nachmittag – eine gefährliche Zeit, da viele Tiere dösten oder schliefen, auf deren Warnrufe man sich sonst verlassen konnte, um die Position der Feinde zu verfolgen. Bip und Ringer lagen flach ausgestreckt auf dem Ast einer Pappel; beide ließen alle viere hängen, nur der Schwanz schützte sie vor dem Hinunterfallen. Mottyl konnte sie da oben auf ihren Bäumen nicht sehen, doch als sie vorbeiging, fing sie einen Hauch von Bips Markierungen am Stamm der Pappel auf.
    Dass sie den Wald betrat, ohne aufgehalten zu werden, stimmte Mottyl nervös und bevor sie weiterging, wollte sie kurz anhalten. Deswegen kletterte sie auf einen umgestürzten und ganz verfaulten alten Baum – wo sie sich ausstreckte, um die markanten Gerüche um sich herum aufzunehmen und etwaige Bewegungen zu beobachten. Der Wald war hier noch nicht sehr dicht, und so konnte sie das gesprenkelte Licht zum Teil wahrnehmen – und damit auch einen Teil der Schattenformen und das, was sie darstellten: die größeren Bäume, die Tiefen des Unterholzes, die hockende Gestalt eines schlafenden Kormorans, die sich gegen den Himmel abzeichnete.
    Was hatte ein Kormoran im Wald zu suchen, so weit vom Fluss entfernt? Vielleicht war all das ja nur ein weiteres Zeichen, dass alles nicht so war, wie es sein sollte. Ausgehend von dem Gerücht von einem bösen Engel im Wald begann Mottyl sich zu fragen, worauf sie wohl als Nächstes stoßen würde.
    Andererseits, wenn sogar ein ganzer Trupp Fische aus dem Teich gestiegen und hierher gezappelt war – warum sollte dann kein Kormoran hier sein?
    Der allerdings war verschwunden, bevor Mottyl die Frage hatte zu Ende denken können.
     
     
    Die Stille war so entnervend, dass Mottyl keine Lust hatte, sich zu rühren. Ihre Flüsterstimmen waren zufrieden – der verfaulte Baum war kühl und sogar die Ameisen und Molche in ihm verhielten sich ruhig. Es wäre angenehm gewesen, weiter in dem wohltuenden, durchschimmernden Licht liegen zu bleiben – aber es durfte nicht sein. Eine läufige Katze ist eine laufende Katze, hieß die Regel, also stand Mottyl auf und ging weiter – stürzte vom Baum in das dichte grüne Gestrüpp der Farne und Zahnwurz.
     
     
    »Wer ist da?«, rief sie zwei Minuten später, als sie in eine Lichtung tappte, die sich unvermutet vor ihr öffnete.
    »Mottyl?«
    Es war das Einhorn. Seine Stimme – bloß ein heiseres Flüstern – war fast so eigentümlich wie seine Gestalt.
    Eine Begegnung mit dem Einhorn war so selten, dass es immer eine angenehme Überraschung darstellte, was Mottyl auch aussprach.
    »Eine angenehme Überraschung auch für mich«, gab das Einhorn zurück. »Und du bist also läufig…«
    »Ja. Aber ich will nicht darüber reden.«
    »Kopf hoch, Mottyl! Je früher es anfängt – desto früher ist’s auch wieder vorbei. Oder?« Und gab dann selbst die Antwort. »Ja.«
    Das Einhorn war nicht viel größer als Mottyl. Seine nervöse Angewohnheit, mit sich selber zu reden, war allgemein bekannt – und manchmal konnte man es hören, aber nicht sehen, während es im Gestrüpp äste. Junge und unerfahrene Tiere meinten oft

Weitere Kostenlose Bücher