Die letzte Flut
dir etwas gesagt?«
»Nichts, was wir nicht schon selber wüssten. Mehr über Federn. Mehr über Ham.«
»Ham?« Jetzt spitzte Mottyl die Ohren.
Ringer erklärte, dass Ham heute im Wald gewesen war. »Das Übliche. Hat auf der Suche nach Insekten Baumstämme umgedreht, ist in Bäume geklettert, um in Nester reinzugucken. Der steckt die Nase überall hinein. Er scheint auch verletzt zu sein. Riecht nach Blut – linker Arm.«
Mottyl berichtete, wie Ham sich während der Opferzeremonie geschnitten hatte. »Erzählt mir mehr über dieses Wesen!«, bat sie.
Doch weder Bip noch Ringer antwortete. Mottyl wartete. Vielleicht wollten sie sich nicht festlegen. Unbegründete Gerüchte galten – wenn man Lemur und daher Waldwächter war – als unverantwortlich. Als gefährlich.
Schließlich wurde Mottyl ungeduldig. »Na?«
Bip hüpfte wieder auf seinen Ast in der Pappel und kaute an einem Blatt. »Erzähl es bitte niemandem – aber…« Er lehnte sich hinüber, den Kopf nach unten, so dass sein Gesicht dem Mottyls sehr nahe war. Mottyl konnte das Blatt in seinem Mund riechen; kein unangenehmer Geruch, aber ihrem Gaumen fremd. »Hast du schon einmal einen Engel gesehen?«
»Natürlich.« Mottyl war fast empört. »Die Engelin, die sich immer im Obstgarten herumtrieb. Manchmal hockte sie auf dem Tor – manchmal in den Bäumen und aß Äpfel. Hat ein Schwert getragen, aber nie benutzt.«
»Nein. Ich meine nicht diese Art Engel…«
»Gibt es noch andere Arten?«
»Ja, ich glaube, vielleicht.«
Bip hielt die Luft an und schaukelte hin und her – dann sprang er hinunter und nahm zwischen Mottyl und Ringer Platz.
Er war unschlüssig, das war eindeutig. »Vielleicht täusche ich mich ja, aber – ich glaube, es gibt auch böse Engel. So wie es böse Tiere gibt.«
»Der Geruch ist anders«, ergänzte Ringer.
»Anders – und auch wieder gleich«, sagte Bip.
Zitronenstrauch – das war gleich. Und Weihrauch – das war gleich. Doch offensichtlich gab es noch einen weiteren Geruch, und Ringer tat sich schwer ihn zu erklären. Sie nannte ihn »beunruhigend«, »schrecklich«, wie…
Bip krümmte sich: »Faule Eier.«
Ringer sah ihn an. »Ja. Faule Eier. Und…«
»Schlammquellen…«
»Die Schlammquellen unten in den Auen… die immer blubbern und brodeln!«
Mottyl war erschrocken und gleichzeitig fasziniert. »Ihr sagt mir, es gibt hier im Wald etwas, das nach all dem riecht – und ihr haltet es für einen Engel?«
»Ja. Und ich frage mich, ob du nicht oben beim Haus auch etwas gesehen hast.«
»Nur die Feen.«
»Na siehst du. Du hast uns gesagt, dass sie versucht haben, euch etwas mitzuteilen.«
Ja. Aber über einen Engel?
Am nächsten Morgen ging Noah hinaus und spazierte die Straße entlang. Es war noch ziemlich früh – die Luft war voller Vogelgesang, überall lag noch Tau. Der Staub am Saum seiner Robe war durch die Feuchtigkeit schwer geworden und der alte Mann bewegte sich langsam auf die Straßenkreuzung zu, wo Jahwe zuerst erscheinen würde.
Gegen Norden konnte er die Rauchfahnen sehen, die auf die Städte hindeuteten. Jeden Tag änderten die Fahnen ihre Farbe. In der Vergangenheit, als die Menschen Jahwe noch angebetet hatten, war der Rauch wabernd und grau gewesen und die Feuer wurden nur zu bestimmten, den Riten vorbehaltenen Zeiten angezündet – zu den festen Gebetszeiten, zu den Stunden, die dem Opfer geweiht waren. Das alles schien erst einen Augenblick her zu sein – so lange wie Noahs Jugend, obgleich dieser inzwischen mehr als sechshundert Jahre zählte.
Er konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie in früherer Zeit die Andacht begangen wurde: Die Väter und die Ältesten, die Rabbiner und die Gelehrten – so wie er selber –, jeder hatte dabei seinen festen Platz und seine bestimmte Aufgabe. Und die Mutterschafe wurden zum Bittstand vorgeführt, um der Tötung ihres Lammes beizuwohnen; jedem Schaf wurde ein Augenblick des symbolischen Flehens zugunsten seines Kindes eingeräumt. Obwohl natürlich niemals zur Debatte stand, dass ein Lamm verschont würde, war dennoch interessant zu hören, wie die Schafe ihren Fall vortrugen; einige waren sehr wortgewandt. Und ehrlich.
Und die Altäre, die Tücher und Gefäße – alle Altäre waren aus dem edelsten, härtesten Holz geschnitzt und sämtliche Tücher bestickt – jedes mit dem Emblem der Familie, der es gehörte – jedes mit Monogramm – die angesehenen Familien wetteiferten um das feinste Tuch und die feinste
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