Die letzte Flut
Nachgeburt riechen, konnte aber weder die Gestalt des Neugeborenen noch die seiner Mutter erkennen. Was da stand, konnte eine Kuh oder eine Hirschkuh sein, aber das Gras war so hoch und das Licht so schwach, dass nur die große Gestalt des Tieres und ein Paar flatternde Ohren da, wo das Neugeborene lag, sichtbar waren. Mottyl blieb stehen und wartete, bis sie die Tiere genau erkennen konnte. Nicht weil eine Kuh oder ein Hirsch Gefahr für sie bedeutete, sondern weil es sie einfach interessierte. Jedes Neugeborene interessierte sie. Vielleicht war sogar ein Stückchen Nachgeburt da, das ihr auch munden würde… Andererseits, bei all diesen Vögeln – die zum Teil, das erkannte sie, wenn sie sich gelegentlich über dem Festgelage in die Luft hochschwangen, sehr groß waren – wäre es vielleicht klüger, um das Ganze einen Bogen zu machen und auf einen möglichen Leckerbissen zu verzichten. Dennoch: Allein die Nachricht von dem Ereignis war eine »Handelsware«. Krähe zum Beispiel würde den Mutterkuchen genießen und könnte als Gegenleistung bestimmt mitteilen, wo aus dem Nest gefallene Jungvögel zu finden wären.
Mottyl wartete, die Nase nach vorn gestreckt, mit dem Kopf von einer Seite zur anderen wackelnd, um aus dem Lüftchen so viel lesen zu können, wie es preisgeben würde. Aber die Hitze über dem Boden war noch immer drückend und ein sehr schwacher Zug, der dort entstand, wo sie sich vom Gras emporhob, war die einzige Luftbewegung. Mottyl stellte sich wie ein Hase auf den Hinterbeinen auf, so dass sich ihr Kopf über dem Luftzug befand – doch jedes Aroma, das sie wahrnehmen konnte, kündete nur von der Wiese und vom Mutterkuchen, nicht vom Tier selbst. Nicht, dass es etwas ausmachte, wenn es eine einfache Kuh war, aber ein Wasserbüffel…
Sie stellte sich wieder auf alle viere und wandte sich nach links, wo, wie sie wusste, der Pfad eines Murmeltiers zum Waldrand hinunter führte. Sie war diesem Waldmurmeltier – Pfeifer hieß es – schon verschiedene Male begegnet und wusste, es war sehr alt und immer schlecht gelaunt; doch seine Geschichten – vorausgesetzt, man konnte es dazu überreden, sie zu erzählen – waren faszinierend.
Einmal – mitten im Sommer – hatte Pfeifer sie in seinen Bau eingeladen, als sie sich im Vorbeigehen über die Hitze beklagte. Aber noch bevor ihr Schwanz im Tunnel verschwunden war, musste Mottyl rückwärts wieder hinauskriechen. Unter der Erde war es einfach zu beängstigend. Ihren Gastgeber hatte sie damit beleidigt, er warf ihr vor, sie sei unhöflich und es fehle ihr an Mut. Schließlich sei es unter der Erde doch kühler als darüber, und Pfeifer hatte ihr nur Schutz vor der Sonne bieten wollen. Wenn der Geruch seines Baus ihr jedoch nicht behage…
»Aber nein«, hatte Mottyl protestiert. »Glaub mir! Es ist nur die Enge.« Und sie war am Eingang seines Baus sitzen geblieben, obwohl sie über die Mittagszeit in der Sonne förmlich gebraten wurde, nur um ihm zu zeigen, dass sie nicht gekränkt war, während er, in der feuchten Erde unter ihr liegend, ihr eine Menge Geschichten erzählte.
Damals hatte sie Pfeifer lieb gewonnen, denn die meisten seiner Geschichten erzählten davon, wie jemand Tieren und Dämonen entkommen war, die auch ihr Angst einflößten. Geschichten des Entkommens waren wie Devisen, jeder hortete sie. Auch sie waren tauschbare Ware, wie die Nachricht von einer Geburt, einem Todesfall oder einer Verletzung – der Handel beschränkte sich allerdings auf diejenigen, die gemeinsame Feinde hatten. Ein Entkommen auf vier Beinen war für einen Vogel bedeutungslos – wie ein Entkommen auf Flügeln für Mottyl oder Pfeifer nicht von Belang war. Nachdem sie Freunde geworden waren, hatte Pfeifer Mottyl nicht nur erlaubt, seine täglichen Pfade zu benutzen, sondern hatte ihr auch gezeigt, wo seine geheimen Wege waren – Pfade, die zu Brombeerdickichten und Mauerlöchern führten.
Später konnte Mottyl sich revanchieren, indem sie Pfeifer während der Dürre zum Teich in Noyes’ Hof führte, wo er seinen Durst löschen konnte. Die Aussicht, bis zum Fluss gehen zu müssen, hatte ihm Sorge bereitet, denn durch die Dürre war er krank und schwach geworden. Er hatte zwar erst recht ungehalten reagiert und geklagt, Mottyl würde ihn direkt zu seinem Verhängnis führen, ins Maul der Japeth’schen Wolfsdämonen. Aber schließlich konnte sie ihn doch überreden, mit auf den Berg zu steigen, indem sie sagte: »Der einzige Dämon, den es hier gibt,
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