Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
Vom Netzwerk:
Stickerei – die Frauen hatten sie beim Licht der Lampen genäht – und dann der Geruch des Leinenzwirns und des Baumwollgewebes. Heutzutage dagegen! Diese nichtsnutzige Emma konnte nicht einmal eine Nadel führen! Und jetzt – diese jüngste Pilgerreise Jahwes, mit seinem ganzen Gefolge… gewiss würde die Gottesfurcht die Frauen wieder auf ihren Platz verweisen. Und die jungen Leute würden sich wieder dem göttlichen Zorn beugen, so wie er es getan hatte – wie alle jungen Leute es in Noahs Jugend getan hatten.
    Er schloss die Augen. Aber ach… die Gefäße! Silberne Schüsseln, kupferne Schüsseln, zu Sonnen und Monden gehämmert – wahre Höhepunkte handwerklichen Könnens. Die Pracht und die Freuden des Gottesdienstes: wechselseitige Zustimmung und Gemeinschaft und der wunderbare Tumult der Erwartung, der erst verstummte, wenn das Lamm erschien, das mit gefesselten Füßen nach vorne getragen und vor den Gesalbten und Auserwählten Jahwes aufrecht und mit unverbundenen Augen hingestellt wurde – was immer in der Hitze des Mittags geschah – und das Blöken und Stöhnen und die Ekstase des Gebetes. Mit weit geöffneten Augen und großer Konzentration lehnte sich jeder der Ministranten und jeder der Väter, jeder der Ältesten, jeder der Rabbiner, jeder der Gelehrten mit seinem Gefäß nach vorne, jeder lehnte sich nach vorne und schwang das heilige Tuch – das erste Blut wurde immer in jenen zehn begnadeten Sekunden, während das Lamm noch stand, im goldenen Kelch aufgefangen – lebendig und tot zugleich –, dann stolperte es, brach zusammen, fiel hin und sein Blut floss auf den Altar und strömte in die nach vorn gehaltenen Schüsseln. Und dann wurde die feierliche Hymne gesungen, die jetzt vergessen war – alle Knaben und Frauen hüben an zu singen:
     
    Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis.
    Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem.
     
    Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt, erbarme dich unser.
    Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt,
gib uns den Frieden.
     
    Und zum Schluss trank jeder der Väter, jeder der Ältesten, jeder der Rabbiner, jeder der Gelehrten aus dem goldenen Kelch das erste Blut des erstgeborenen Lamms am ersten Tag des Festes…
    Doch heutzutage konnten die Söhne des Vaters nicht einmal mehr das Messer führen – und die ganze Opferung war nur noch eine Farce.
    Die modernen Feste waren endlos – ohne Konturen – zogen sich ewig hin, so dass keiner wusste, wo das eine aufhörte und das nächste anfing. Und was sich dabei abspielte, war abscheulich: eine Verschandelung der menschlichen Würde… Frauen wurden auf die Altäre geworfen und vor den Augen Baals geschändet (bereitwillig, wie manche behaupteten). Einige sogar mehrmals… Nein, es war unvorstellbar. Wie die Riten des Baal selbst, dessen Verkörperung der Stier war – die auserwählte Frau wurde von ihm bestiegen! Von einem Stier bestiegen! Es war ungeheuerlich! Ungeheuerlich! Und am allerschlimmsten waren die Männer, die den Phalluskult praktizierten und vor den Priestern des Baal auf die Knie fielen… nein, das war einfach unvorstellbar.
    Der Gedanke an all dies und die überwältigende Aussicht auf die Ankunft Jahwes machte Noah schwach und er merkte, dass er sich eine Weile auf den grasbewachsenen Straßenrand setzen musste.
    Während er da in der Sonne saß, ging er alle Einzelheiten seiner Vorbereitungen auf die Ankunft des Herrn noch einmal durch. Der große Pavillon am Rand des Rasens; das Festmahl, das Mrs Noyes mit so viel unnötigem Getue zubereitet hatte; das auf Hochglanz polierte Silberbecken, worin er Gottes Füße waschen würde; die Anweisungen an seine Söhne und Schwiegertöchter; und zuletzt die Chöre der Widder und der Mutterschafe, die von Mrs Noyes einstudiert wurden, sowie die Opferlämmer, die auf die Schlachtung vorbereitet wurden. Das Problem war, dass – abgesehen von den Anfällen von Wut und Niedergeschlagenheit in Jahwes Brief – Noah nicht sicher wusste, warum Jahwe ihn aufsuchen wollte. Gewiss reichte es – nicht einmal für Gott – nicht einfach nur zu sagen: WIR SIND MASSLOS WÜTEND… WIR SIND VOR ENTSETZEN SPRACHLOS… UNSER HERZ IST GEBROCHEN UND WIR WEINEN VOR KUMMER… ohne irgendeine Erklärung zu geben. Und dann, was bedeutete jener äußerst rätselhafte, äußerst beunruhigende Satz: WAS HABEN WIR GETAN, DASS DER MENSCH UNS SO BEHANDELT?…
    »Laudamus te, benedicimus te, adoramus te…«
    So sangen die

Weitere Kostenlose Bücher