Die letzte Flut
Gesetz geworden, wenn man auf die selteneren Arten der Lilie und der Mimose stieß.
Niemand wusste, wo sie lebten, und niemand hatte jemals ihre Jungen gesehen; bekannt war allerdings, dass sie jedes Mal haargenau zwei bekamen.
Wenn Mottyl den Einhorn-Herrn längere Zeit nicht gesehen hatte und sie sich sehr konzentrieren musste, um sich sein Bild vor Augen zu holen, stellte sie sich einfach eine Zwergziege vor. Gewiss, er war ziegenartig an Gestalt und an Farbe, doch das Einhorn, das Mottyl kannte, war weiß – und die Dame grau.
Als sie zum Stumpf eines weiteren umgestürzten Baums kamen, sagte das Einhorn zu Mottyl: »Ich fürchte, hier muss ich dich verlassen. Dein Freund ist da drüben – du hast es sicher schon bemerkt. Seit mehr als einem Tag jetzt tot…«
Das arme Einhorn war so nervös, dass es die Akelei fallen ließ, und beim Versuch, sie wieder aufzuheben, darauf trat und dabei einen Teil der kostbaren Säfte herausdrückte.
»Manchmal«, seufzte es mit seinem eigenartig freudlosen Lachen, »wünschte ich mir, wir würden Bäume fressen. Es gibt so viel mehr davon als Blumen.«
Mottyl setzte sich hin und wartete, während das Einhorn die Akelei wieder auflas; sie wusste, wenn sie es allein ließ, könnte es vielleicht der Schlag treffen aus lauter Enttäuschung, nicht gleichzeitig die Blume aufheben und nach Feinden in den Bäumen Ausschau halten zu können. Ihre Gegenwart – auch wenn sie auf einem Auge blind war – könnte in den Augen des Einhorns zumindest die in seiner Vorstellung immer anwesenden, immer lauernden Jäger abhalten.
»Auf Wiedersehen, Mottyl, Freundin«, brachte es endlich im Flüsterton heraus, die Akelei zwischen den Zähnen. »Ich werde – wir werden – hoffentlich werden wir uns alle wieder treffen… bald. Bald…«
Und weg war es.
Mottyl hörte das Rascheln der Farne, durch die das Einhorn seinen Rückzug antrat, und dachte, wie seltsam und traurig es war, dass ein Geschöpf, das so wenig Grund hatte, ängstlich zu sein, so unendlich viel Angst hatte. Das Einhorn war wie die Spatzen, die sie im winterlichen Hof beobachtet hatte, als ihr Augenlicht noch unversehrt und Doktor Noyes lediglich ein Anhang ihres Frauchens war. Die Spatzen suchten ihr Futter immer mit einem Auge zum Himmel und dem anderen zu Boden gerichtet – sie verrenkten sich dabei, verrenkten sich – waren niemals ruhig – Kopf rauf, Kopf runter –, so dass jede Futtersuche zum Alptraum geriet. Und Mottyl hinter ihrem Fenster – unfähig, sich zu beherrschen – warf sich gegen das Glas: der Feind der Spatzen war sie! Doch das Einhorn hatte gar keine Feinde. Zumindest keine, von denen sie wusste. Das Einhorn und die Dame wurden weit und breit geachtet. Trotzdem, wer konnte es wissen? Hatten die Spatzen nicht gewusst, dass Mottyl hinter jenem Fenster saß? Sicher. Denn sie waren ihr ganzes Leben lang von »Fenstern« umgeben, befanden sich in einem endlosen Traum von splitterndem Glas.
Mottyl wusste, so musste es sein, ganz einfach, weil die Gestalt von Doktor Noyes hinter einem Fenster, das nur sie erkannte, auf sie geharrt hatte. Daher hatte ihr Freund, das Einhorn, wahrscheinlich Recht. Nur das Einhorn wusste – wie Mottyl und die Spatzen –, wo sich die für es selbst bedrohlichen Fenster befanden. Und seine Flüsterstimmen riefen ihm den Feind immer ins Gedächtnis.
In der Tat. In der Tat. Fürchte dich mehr!
Mit seiner Bemerkung, dass Mottyl spüren könne, wo Bello zu finden war, meinte das Einhorn nicht den Geruch des Todes. Der Klang des Todes sollte sie vielmehr zu dem kleinen Hund führen. In den Wäldern und auf den Feldern war der Geruch des Todes allgegenwärtig, denn es gab immer irgendein totes Geschöpf, das gerade verweste.
Aber der Klang des Todes war einmalig. Er konnte sowohl schrecklich als auch erhaben sein – und er brachte dem Betroffenen eine Art der Anerkennung ein, die er zu Lebzeiten nicht genossen hatte.
Es war der Klang von – Fliegen.
Es war bekannt und Mottyl hatte es miterlebt, dass einige Tiere die Fliegenkrone erlangten, bevor der Tod ganz eingetreten war. Eine Tatsache, die irreführend sein konnte. Auch wenn der Tod auf diese Weise akzeptabel war, konnte man nicht behaupten, dass man ihn willkommen hieß. Der Tod war nie willkommen. Besser wäre zu sagen, er würde ertragen.
Manchmal, wenn die Fliegenkrone sich um seinen Kopf herum sammelte, war das betroffene – vielleicht verwundete – Tier nicht mehr fähig zu fliehen. In anderen
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