Die letzte Flut
Fällen sammelte sich die Krone so früh vor dem Tod, dass das Tier erschrak – wahnsinnig wurde und beim Fluchtversuch sich in die Erde eingrub, wo es erstickte oder sich in einen Teich stürzte, wo es ertrank, weil es nicht die Kraft hatte, sich über Wasser zu halten.
Die Fliegenkrone war für Mottyl etwas besonders Ergreifendes – und daher war ihre Ehrfurcht vor Bellos Krone groß. Zumal sie ein besonders kummervolles Erlebnis in ihr wachrief. Nachdem Doktor Noyes ihr alle anderen Kinder genommen hatte, war auch ihr letztes am Leben gebliebenes Kind gestorben. Krank geworden aufgrund der Experimente des Doktors, war es ihm trotzdem gelungen zu entkommen. In seiner Angst hatte es sich auf die Suche nach Mottyl gemacht, da es an ihrem Geruch noch sehr hing – das Kätzchen war erst zehn Wochen alt.
Aber es konnte seine Mutter nicht finden.
Sie war zu sehr damit beschäftigt, sich selbst vor Doktor Noyes zu verstecken.
Später am Abend fand sie das Kätzchen weit vom Haus entfernt an einer alten Steinmauer.
In der Haltung einer Sphinx lag es dort – in Trance versetzt – und von einer so riesigen Fliegenkrone umgeben, dass ihr Lärm ein ganzes Feld weiter zu hören war.
Dieser Klang sollte Mottyl nie wieder loslassen – und hier begegnete sie ihm wieder.
Bellos Krone umgab seinen Kopf und seine Schultern. Mottyl setzte sich hin – wie es sich gehörte – und schielte den Hund an, dessen Leiche in einer verzweifelten Haltung an einem Baum lehnte. Er lehnte mit dem Rücken zu ihr, ein Zeichen, dass er versucht hatte – was keinem Hund gelingt – auf den Baum zu klettern.
Nur ein Geier vermag einen Schwärm Fliegen zu stören; doch für Bello hatte es keinen Geier gegeben.
Die Federn, die unter seiner Leiche verborgen lagen – Federn, die Mottyl weder sehen noch riechen konnte – stammten nicht von einem Geier. Sie waren aus Bronze.
Nachdem eine angemessene Zeit vorüber war, während der sich der unauslöschliche Klang in Mottyls Ohren verstärkt hatte, stand sie auf und zog sich mit größter Umsicht von der Stelle zurück. Sie überließ die Krone ihrer Aufgabe.
Aber sie betete für den Hund – indem sie ihre von der Läufigkeit imprägnierten Spuren in der Nähe hinterließ. Ich, Mottyl, die Katze, war hier – sagten diese Spuren. Ich kannte dieses Tier. Ich bete darum, dass es den Geiern freigegeben werde.
Kaum war Mottyl vier oder fünf Körperlängen ins Unterholz vorgedrungen, da hörte sie, wie hinter ihr Flügel sausten und ein riesiger Vogel auf einem Baum landete.
Sie drehte sich um und musste ihr gutes Auge zukneifen, um damit gegen den weiten hellen Himmel einigermaßen klar zu sehen. Zuerst dachte sie, ihr Gebet um einen Geier sei erhört worden – und diese Vermutung schien bestätigt, als sie endlich in den Ästen eine große dunkle Gestalt fast direkt über der Stelle erblickte, wo Bello an den Baum gelehnt war, den er nicht hatte erklimmen können.
Es war der Kormoran.
Ganz instinktiv tauchte Mottyl schnell wieder im Gestrüpp unter – bis ihr bewusst wurde, dass ein Kormoran, ganz gleich wie groß kein Feind war. Da sie jedoch neugierig auf ihn war, kam sie langsam wieder zum Vorschein und versuchte sich diesen rätselhaften Vogel näher anzusehen. War es nicht ein bemerkenswerter Zufall, dass seine Gegenwart dort mit ihrem Streifzug durch den Wald zusammenfiel?
Mottyl erhaschte nur noch einen flüchtigen Blick auf den Kormoran, als sie innehielt, um einen besonders dicken Igel zu umgehen, der mitten auf ihrem Weg eingeschlafen war – sie sah, wie der Kormoran seine Flügel ausbreitete, als wolle er sie nach einer Tauchpartie im Fluss trocknen. Woraufhin er aus ihrem Blickfeld verschwand – für immer, wie sich herausstellte –, hinter den sich schließenden Wedeln der Farne und Beutelsträucher.
Als Mottyl wieder in der Lichtung auftauchte, wo Bello unter seiner Fliegenkrone saß, war der Kormoran verschwunden und auf seinem Platz befand sich jetzt – es gab keinen Zweifel – ein Engel.
»Warum kommst du nicht herunter?«, fragte Mottyl.
»Ich habe Angst«, sagte der Engel. »Da unten ist ein Hund, und obwohl er tot ist, habe ich Angst vor ihm.«
»Das ist lächerlich.«
»Es mag dir lächerlich vorkommen«, sagte der Engel, »aber was mich angeht, ist dieser Baum im Augenblick der sicherste Platz, danke, und ich habe vor, hier zu bleiben.«
»Ich wusste gar nicht, dass Engel Angst vor Hunden haben«, bemerkte Mottyl. »Eigentlich dachte ich, ihr
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