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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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langen knochigen Finger sehen können, die jetzt in den Ärmeln ihres Gewandes gefaltet waren. Elegant, ja, aber unnatürlich lang und mit Haut dazwischen, die sich von Finger zu Finger dehnte.
    Nur Engel und Wasservögel haben Schwimmhäute an Händen und Füßen.
    Mottyl schauderte.
    Sie musste an den Kormoran denken. Das war also auch Luci gewesen.
    Plötzlich bückte diese sich, als wollte sie Mottyl hinter den Ohren kraulen.
    Sotto voce sagte sie Mottyl direkt ins Gesicht und verströmte dabei ihren nach Zitronenstrauch duftenden Engelsatem: »Kein Wort davon, Katze, hast du mich verstanden? Kein einziges Wort!«
    Dann richtete sie sich wieder auf und fummelte sofort in ihren Taschen, fummelte mit ihren Händen herum – so dass sie, als sie sich Ham erneut zuwandte, genauso aussah, wie er ihr wohl beim ersten Mal begegnet war – eine Frau von beachtlicher Schönheit, mit einem weißen Gesicht, die ihre weiß behandschuhte Hand ausstreckte, damit er sie festhalte.
    »Sollen wir zum Waldrand gehen«, fragte sie, »wir drei zusammen?«
    Also gingen sie.
     
     
    Am Zaun blieb Luci stehen.
    Draußen über dem Gras flatterte ein Schatten.
    »Was ist das?«, fragte sie – in ihrer Stimme lag überraschend ein Zittern.
    Ham blickte auf.
    »Schon wieder eine Taube«, sagte er. »Die arme Mama ist sie allmählich so satt.«
    »Deine Mutter mag keine Tauben?«, fragte Luci.
    »Nein. Das ist es nicht. Es sind nur diese Tauben in den letzten paar Tagen. Botschaften von Jahwe…«
    Luci erstarrte, wich in den Schutz der Bäume zurück.
    »Rosarote Tauben?«, fragte sie. »Und rubinrot?«
    »Ja. Woher weißt du das?«
    »Ich habe einmal eine gesehen.« Sie schien härter – kühler – geworden zu sein. »Meint ihr, ihr könnt allein weitergehen?«, fragte sie. »Ich gebe zu, eine entsetzliche Müdigkeit überkommt mich. Ich glaube, ich mache hier eine Pause. Habt ihr etwas dagegen?«
    Ham hatte in der Tat etwas dagegen, sehr sogar. Also ging Mottyl den Berg allein hinauf, während Ham und Luci sich unter den Bäumen ausruhten – von den Blättern und Lucis Sonnenschirm doppelt beschattet.
     
     
    Die Taube blickte hinunter und sah eine Katze, die den Berg hinaufging, dasselbe Ziel anstrebte wie sie selbst. Nur dass die Katze sehr langsam ging – anhielt, um zuerst mit einer Krähe, dann mit einem Waldmurmeltier zu sprechen.
    Hatten irdische Tiere wirklich so wenige Sorgen, dass sie sich nur auf den Wiesen herumtrieben und mit ihren Freunden klatschten?
    Was für eine Art, das Leben zu verbringen! Die Taube hatte gewiss keine Zeit für eine Pause. Ihre Botschaft war die allerwichtigste, die sie in ihrer ganzen Laufbahn als Botin jemals überbracht hatte. Jahwe selbst hatte nicht ganz fünf Meilen entfernt sein Lager, und er würde morgen nach Sonnenaufgang mitsamt seinem Gefolge genau diesen Berg heraufkommen.
    Diesmal – galt es als sicher.
    Diesmal – würde Jahwe ankommen.
     
     
    Unten am Wald hörte Mottyl die Trommel als Erste und mit der Trommel das Rumpeln der großen Räder. Sie war gerade dabei, eine Maus zu zerlegen, als die Erde zu vibrieren anfing. Zuerst dachte sie, es würde sich um ein Erdbeben handeln, aber die Rhythmen waren zu gleichmäßig und das Rollen der Räder zu beharrlich.
    Krähe, die in den Zweigen genau über der Stelle saß, wo Mottyl sich an der Maus gütlich tat, rief hinunter: »Der Baum wackelt. Spürst du es?«
    »Ja. Flieg doch mal hoch und schau nach, was es ist!«

Das Rumpeln und die Trommelschläge waren jetzt noch viel lauter.
    Krähe hob ab und bahnte sich einen Weg durch die oberen Äste, bis sie ungestört durch die Luft fliegen konnte.
    »Siehst du etwas? Siehst du, was es ist?«, rief Mottyl. »Die Erde zittert, Krähe…«
    Krähe kreiste höher…
    »Staub«, rief sie zurück. »Riesige hohe Staubsäulen… und es sieht aus, als ob sie sich die Straße entlang bewegen…«
    »Kommen sie hierher? Und wo kommen sie her?«
    »Aus dem Norden… von den Städten… und ja, sie kommen hierher.«
    »Kannst du erkennen, was sie verursacht? Was kann sie nur verursachen?«
    »Etwas, was ich noch nie gesehen habe. Es ist sehr schwer zu sagen… es sind Pferde, glaube ich, mit Flügeln! Aber es gibt so viel Staub…«
    Pferde mit Flügeln?
    »Wagen und Käfige…«, fuhr Krähe fort. »Eine große schwarze Kutsche… alle Fenster sind gegen den Staub abgeschottet… und so viele Käfige, ich weiß nicht…«
    »Was ist in den Käfigen?«
    Mottyl fragte sich, ob es eine

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