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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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solltet vor nichts Angst haben.«
    »Solltet gefällt mir«, sagte der Engel. »Du solltest daran denken, wenn von Angewohnheiten und Schwächen die Rede ist, ganz gleich, auf wen es sich bezieht. Wirklich, ich habe eine Heidenangst vor Hunden, Wölfen und Füchsen – und ich kann nichts dagegen tun. Ist er wirklich tot?«
    »Ja.«
    »Gut.«
    Dennoch rührte sich der Engel nicht vom Fleck.
    »Kommst du nicht runter, jetzt, wo du weißt, dass er tot ist?«
    »Ich bete gerade.«
    »Dann will ich nicht stören.«
    »Macht nichts. Ich habe darum gebetet, dass er nicht wieder auferstehen möge…« Der Engel bewegte heftig seine breite, mit Schwimmhäuten versehene Hand und Bellos Leiche wurde mitsamt den Fliegen zu einem Haufen brummenden schwarzen Staubes reduziert. Recht bald hörte auch das Brummen auf, da die Fliegen nichts mehr fanden, woran sie sich hätten laben können.
    »Nun?«, sagte der Engel.
    Mottyl schlich näher heran und untersuchte die Überreste ihres Freundes. »Ja. Er riecht wie…« Sie schaute zum Engel auf. »Asche.«
     
     
    Als der Engel vom Baum herabstieg, glitt er auf eine so anmutige, ungezwungene, ja sogar lässige Art zu Boden, dass er die kurze Strecke – etwa vier Meter – dazu benutzen konnte, sein Gewand zu überprüfen.
    Als er unten ankam und Mottyl das Geschöpf zum ersten Mal wirklich von nahem anschauen konnte, sah sie die Gestalt einer Frau, die weit über zwei Meter groß war und ein riesiges mondweißes Gesicht und pechschwarze Haare hatte.
    Ohne jeden Zweifel war das der böse Engel, den Bip und Ringer beschrieben hatten. Es konnte niemand anders sein. Und doch unterschied sich dieses Geschöpf, das so unglaublich hoch in die Luft ragte, von den meisten anderen Bösen, die zu Hitzköpfigkeit und Unzufriedenheit neigten und sehr oft gefährlich waren; es lächelte, sprach mit leiser Stimme und war schön. Wenn auch auf eine seltsame Art. Seine Größe war verwirrend, ebenso das so weiße Gesicht.
    Genau in dem Augenblick, als Mottyl sich den Engel genauer ansah, tauchte Ham auf.
    Er war vom Laufen außer Atem, und wie Mottyl bemerkte, hatte die Anstrengung die Wunde auf seinem Arm wieder aufbrechen lassen; ein feuchter roter Halbmond war auf dem von Mrs Noyes angelegten Leinenverband zu sehen.
    »Oh«, sagte Ham. »Verzeihung. Da bist du ja. Hallo, Mottyl.«
    Mottyl gab keine Antwort, setzte sich aber entschlossen hin – wie Katzen es zu tun pflegen – um zu sehen, was jetzt passieren würde. Da sie davon ausging, dass Ham dem bösen Engel bisher noch nie begegnet war, war sie sehr überrascht, als die beiden einander beim Namen nannten.
    »Du kennst diese Katze, Ham?« Der Engel machte eine kunstvolle Geste und faltete die Hände in den weiten Ärmeln.
    »Ja. Sie gehört meiner Mutter.« Ham wandte sich an Mottyl. »Ich habe Luci erst gestern kennen gelernt…«
    Luci.
    Ham schien äußerst verlegen und Mottyl fragte sich, warum.
    Ich glaube, er weiß nicht, dass sie ein Engel ist.
    Wieso meinst du das?
    Na ja – er behandelt sie wie einen Menschen.
    In der Tat versuchte Ham seine Begegnung mit der weit über zwei Meter großen Frau namens Luci auf fast dieselbe aufgeregte Weise zu rechtfertigen, die Mottyl so oft erlebt hatte, wenn Japeth Mrs Noyes seine Fremden unbeholfen vorstellte: Erklärungen, die irgendwie nach Ausreden klangen – und Vorstellungen, die sich wie Entschuldigungen anhörten.
    »Ich wusste, dass jemand unten im Wald war…«, sagte Ham. »Ich konnte Spuren sehen, da, wo jemand gegangen war…«
    Das war ein Teil der Wahrheit.
    »Ich bin hierher gekommen, um Bello zu suchen…«
    Das war noch ein Teil.
    »Ich bin eingeschlafen, weißt du, und als ich aufgewacht bin… hockte diese Person über mir und kühlte mich mit einem Papierfächer…«
    Ja, ja.
    Hams Stimme dröhnte weiter. Das Ganze war unverständlich. Eine gut zwei Meter große Frau, die rein zufällig im Wald spazieren ging – mit einem Papierfächer und – wie sich herausstellte – auch einem Sonnenschirm aus Papier. In einem langen rosafarbenen Gewand mit Schmetterlingsärmeln. Eine Frau, deren Aufzug eher zu einem exotischen Hof passen würde – deren Gesicht mit einem seltsamen weißen Puder überzogen war – und deren Name…
    Er kann unmöglich wissen, dass sie ein Engel ist. Luci. Eine Frau mit riesigen Händen und Fingern, die… Schwimmhäute haben.
    Das hatten sie nämlich. Schwimmhäute. Denn als Luci die Feuerkugel nach Bello warf, hatte Mottyl überdeutlich die Form der

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