Die letzte Flut
einen Geist oder ein Gespenst zu hören, und erzählten das ihren Eltern – die sie auslachten. »Es ist nur das Einhorn.«
Was die Größe betrifft, maß das Einhorn am höchsten Punkt seines Horns nicht mehr als vierzig Zentimeter – und vom Schwanz bis zur Hornspitze waren es dreiundvierzig, vielleicht auch fünfundvierzig Zentimeter. Wovon das Horn gut fünfzehn Zentimeter ausmachte – und sehr oft war der einzige sichtbare Teil des Tieres seine bernsteinfarbene Zierde, die eine Bahn durch das Gestrüpp schnitt.
Mottyl wollte wissen, warum es im Wald so still war. Beängstigend still…
»Es hat einen Todesfall gegeben«, berichtete das Einhorn. »Leider, leider. Bello, euer Hund. Umgebracht, wir wissen weder wie, noch von wem. Furchtbar…«
»Oh.« Es tat Mottyl sehr Leid, das zu erfahren – nicht, weil sie Bello gemocht hätte, sondern wegen der Unruhe, die das zu Hause verursachen würde. Emma würde tagelang weinen und Türen zuschlagen. »Und kein Hinweis darauf, wie es passiert ist?«
»Nichts.«
»Er war verschwunden«, sagte Mottyl, »wir wussten, dass er fort ist – aber nicht, dass er tot ist. Die arme Emma.«
»Emma?«
»Er gehörte Emma. Japeths Frau.«
»Ach ja.« Das Einhorn schwieg einen Augenblick und dann flüsterte es, mit einem Blick über die Schulter: »Ich habe hier geäst. Mich sehr unsicher gefühlt. Es treibt sich ein Wesen herum, weißt du.«
»Ja. Ich weiß.«
»Es kann ja sein, dass das Wesen ihn umgebracht hat. Es hat das Leben sehr schwer erträglich gemacht. Wir kommen sowieso so wenig rum… Die Dame rührt sich nicht vom Fleck… Ich muss dieses ganze entsetzliche Dickicht durchstöbern – was ich hasse – und versuchen Blumen zu finden, weil man sich natürlich, wenn so ein Wesen sein Unwesen treibt, unmöglich zum Waldrand oder zur Waldmitte hinwagen kann, wo die großen Lichtungen sind. Ich fühle mich ganz furchtbar, was deinen Freund betrifft. Bist du traurig?«
»Nicht traurig – um ehrlich zu sein. Ich fürchte, er hieß nicht umsonst Bello. Er hat viel Lärm gemacht. Aber – den Tod hätte ich ihm nicht gewünscht.«
»Nein. Nein. Nun ja. Ich muss weiter – hier werde ich viel zu nervös. Wenn du willst – komm doch mit mir! Ich könnte deine Gesellschaft gut gebrauchen, weißt du. Ich nehme nur diese Akelei für die Dame mit. Wenn du möchtest, kann ich dir unterwegs die Stelle zeigen, wo der Hund liegt.«
Das Einhorn biss eine Akeleipflanze ganz unten am Stiel ab und ging los; wie eine Fahne hielt es die Blume im Maul und kämpfte sich durch das Gestrüpp. Mottyl folgte ihm.
Mottyl kannte das Einhorn und die Dame schon ziemlich lange – allerdings nicht so lang, wie diese schon im Wald lebten. Man bekam sie nur sehr selten zu sehen und sie grüßten so gut wie überhaupt nicht, bis sie eine Person näher kannten. Ohne es zu ahnen, war Mottyl, bevor es zu einer wirklichen Begegnung kam, dem Einhorn schon viele Male über den Weg gelaufen. Die Dame war noch scheuer. Nichts, was sich bewegte, entkam dem Blick der beiden. Da fast alles und jeder für sie ein Feind sein könnte, machten sie bei anderen Tieren immer erst nach vielen Wochen erste Annäherungsversuche, manchmal vergingen sogar Monate, bevor sie sich dazu bereit fanden.
Für einige Tiere wie die Gänse, die Hennen und den Pfau, die nie im Wald gewesen waren, stellten das Einhorn und die Dame nur eine Idee dar – Geschöpfe, deren ganze Existenz von anderen nur erzählt und ausgeschmückt wurde. Sogar Tiere wie die Schafe, Rinder und Pferde, deren Alltag sie bis zum Fuß des Berges führte, konnten nicht behaupten, die beiden öfter als einmal im Leben gesehen zu haben.
Folglich hatten sich um den Einhorn-Herrn und die Dame Legenden gebildet – in denen zum Beispiel behauptet wurde, er sei aus Silber und sie aus Gold – oder dass alle beide aus Glas seien und man durch sie hindurchschauen könne wie durch die Fenster in Doktor Noyes’ Haus. Ihre Hufabdrücke auf der Erde zu finden galt als glückbringendes Ereignis – und falls sich darin Wasser gesammelt hatte, so sollte man es trinken, weil es der Gesundheit zuträglich war. Die Einhörner ernährten sich fast ausschließlich von Blumen, so hieß es, und noch weitere Legenden waren, was ihre Futterplätze anging, entstanden. Plätze, wo Akelei und wilde Schwertlilien wuchsen, wurden fast wie heilige Orte verehrt, den Zufluchtsstätten vergleichbar. »Lasst sie stehen fürs Einhorn!«, war zu einem von allen akzeptierten
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