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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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gleichen eigenständigen Gewalttätigkeit über Japeths Gesicht und Hals, mit der die Brust des Rüpels sich unter seinem Hemd gewölbt hatte.
    Der Tag auf der Straße war so herrlich gewesen – und Japeth hatte nur sehen wollen, ob es möglich wäre, bis zur Dämmerung die Städte zu erreichen. Er war neugierig – mit der gefährlichen unschuldigen Neugierde der Jugend; er wollte wissen, was sich hinter den Riten des Baal verbarg – und ob eine Kitzelfeder bei seinen vergeblichen Attacken auf Emmas Tugend von Nutzen sein könnte. Was zum Beispiel war der »doppelzüngige Kuss«, von dem seine Freunde so sachkundig sprachen? Vielleicht würde er ja einen sympathischen Fremden treffen, der ihm eine Anleitung für diesen Kuss und für eine »affenfingerige Liebkosung« geben könnte, die er zur Überwindung der offensichtlichen Entschlossenheit seiner Braut, ihn ewig abzuwehren, anwenden könnte. Das waren natürlich keine Fragen, die man einem Vater wie Noah oder einem Bruder wie Sem stellen konnte. Und Ham, der war so unschuldig wie das sprichwörtliche Lamm. Was Japeths Jagdgesellen betraf, die hätten ihn gnadenlos mit Spott und Hohn überhäuft, wenn sie herausgefunden hätten, dass er von Sex keine Ahnung hatte und obendrein noch unschuldig war. Von dort war keine Hilfe zu erwarten. Alles, was er von Noah über diese Sache erfahren hatte, war: »Gehorche den Trieben der Natur und tue nichts Perverses!« Doch Japeth wusste nicht einmal, was »pervers« bedeutete. Von Sem erfuhr er auch nicht mehr. »Du liegst oben und sie liegt unten.« Von seinen Freunden nur: »Dring nie zu schnell ein, sonst verpasst du das Beste.«
    Zu schnell eindringen?
    Wo hinein?
    Keiner half. Er würde sich an Fremde wenden müssen.
     
     
    Als der Karren sich in der Straße quer stellte, drehte sich Japeth der Magen um. Er kannte diese Taktik von der Jagd. Es war genauso, als würden Wölfe einem Hirschen den Weg abschneiden.
    »Hallo«, sagte er. »Schönes Wetter heute…«
    Das sagte er immer – ganz gleich, wer oder was ihm gegenüberstand. Sogar Dämonen gegenüber würde er so reagieren. Doch beim Anblick der schrecklichen Augen, die ihn umgaben, wusste er, dass es dieses Mal fehl am Platz war.
    »Schön?«, sagte der Rüpelkönig. »Was zum Teufel ist daran schön?«
    »Na ja…«, sagte Japeth kleinlaut.
    »Ich sage dir, was schön ist«, sagte der Rüpelkönig. »Dass wir dich getroffen haben – das ist schön.«
    Bei diesen Worten hatte er gelächelt und dabei all seine abgewetzten Zähne gezeigt – dann hatte der Rüpelkönig ganz hemmungslos die Hand ausgestreckt und seine Finger über Japeths Wangen gleiten lassen.
    Der Rüpelkönig und seine struppigen Günstlinge hatten schon lange die Hoffnung aufgegeben, auch nur das allereinfachste Essen zu finden, um sich bei Kräften halten zu können. Sie waren aus jedem nur erdenklichen Grund Ausgestoßene – Lepra, Kriminalität und Verderbtheit waren die häufigsten Ursachen –, und die Bande hatte sich zu keinem anderen Zweck als dem des gemeinsamen Überlebens zusammengefunden. Zuerst hatten sie Reisende überfallen, nur um ihnen ihr Geld zu stehlen. Doch dann merkten sie, dass es ihnen unmöglich war, das Geld auszugeben. Keiner duldete sie in seinem Geschäft und die Marktpolizei vertrieb sie jedes Mal, kaum dass sie die Städte betreten hatten. Später fingen sie an, Bauernhöfe zu plündern, wo sie sich mit Hühnern, Getreide und Lämmern versorgten. Doch dem setzte der Winter ein Ende. Im Schnee konnten sie nicht ungesehen in die Nähe der Höfe gelangen – und nachts waren die Scheunen und Schafpferche von Hunden und Wölfen, gelegentlich sogar von Bären umstellt. Wegen ihrer Gewalttätigkeit waren sie berüchtigt – und diese traurige Berühmtheit wurde ihnen zum Verhängnis. Man hatte Selbstschutzgruppen gebildet, um sie von Städtchen und Dörfern fern zu halten. Reiterscharen verfolgten sie, sobald sie irgendwo auftauchten. Bald konnten sie nicht einmal mehr ungeernteten Weizen stehlen, da die Bauern ihretwegen immer mehr Wachen aufstellten.
    Es war unvermeidlich.
    Einer der ihren hatte rebelliert.
    Und war getötet worden.
    Und aufgegessen.
    Dies war der Beginn eines Brauches – und bald gab es eine neue Verwendung für Fremde, denen sie auf der Straße begegneten.
     
     
    Japeth war jetzt in der Nähe des Pavillons, doch die Bilder in seinem Kopf störten ihn so sehr, dass er nicht weitergehen konnte. Also blieb er auf dem Berg stehen und wartete,

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