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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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während er die abscheulichen Ereignisse in seinem Geiste nacherlebte. Er hatte den Teil der Geschichte erreicht, der am meisten einem Alptraum und am allerwenigsten der Wirklichkeit ähnelte. Nie hatte er jemandem davon erzählt – nur einmal war er in den Wald gegangen und hatte sich den Felsen und Bäumen laut anvertraut. Das Ganze in Worte zu fassen und diese Worte auszusprechen hatte ihm zumindest das Gefühl gegeben, als gäbe es Worte für das, was ihm angetan worden war: dass »mariniert werden« etwas war, was einem Menschen passieren konnte – dass »Kotelett« und »Steaks« und »Lende« Stücke eines menschlichen Körpers sein konnten und dass »Leber« und »Herz« und »Niere« – sogar »Nierenpastete« – den Gedanken an Menschen hervorrufen konnten. Auch Abfall, wie zum Beispiel »Innereien« und »Aas« und Ausdrücke wie »Knochen abnagen« hatten alle mit dem Menschen und von daher mit Japeth Noyes zu tun.
    Zuerst hatte er die Worte nur geflüstert, dann gebrüllt. Dann hatte er, des Artikulierens nicht mehr fähig, geschrieen, bis alle Vögel hochgeflogen waren und alle Tiere sich versteckt hatten und sogar die Drachen in ihren Suhlen unter die Oberfläche getaucht waren. Und dann – vielleicht weil er das Ende aller Worte erreicht hatte, mit denen er seine Geschichte hätte wiedergeben können – hatte sich Japeth beruhigt und geschwiegen.
    Und dennoch – obwohl er die für ihn notwendige Versöhnung des Horrors, den er sich nicht vorstellen konnte, mit dem Horror, den er erlebt hatte, vollzogen hatte – war es ihm noch immer unmöglich, sich mit dem Hauptereignis auseinander zu setzen, ohne sich krank zu fühlen. Bis jetzt hatte er jedes Mal, wenn er es nochmals durchlebte, sich schnell an einen privaten Ort zurückziehen müssen, wo er sein Mittagessen erbrach und weinte und seine Augen zuhielt in der Hoffnung, dass, wenn er sie wieder öffnete, seine Haut nicht mehr blau und die Welt wieder die alte sein würde – die Welt voll ursprünglicher Wunder und gütiger Fremder: die Welt, die er als Knabe geliebt hatte und von der er dachte, sie würde ihm immer erhalten bleiben.
    Aber das Versprechen »für immer« war auf der Straße nach Baal und Mammon gebrochen worden.
    Jetzt, hier auf dem Berg, wo er nach Michael Archangelis suchte, war Japeth beim lähmenden Teil der Geschichte angekommen, der ihn, immer wenn er daran dachte, krank machte – also setzte er sich hin, den Kopf zwischen den Knien – ein blauer Mann, der im blauen Schatten des Pavillons seines Vaters weinte, in dem Michael Archangelis seine Messer polierte und in dem Jahwe schlief.
     
     
    Ein Feuer wurde geschürt – drüben auf einem steinigen Feld neben der Straße. Japeth wurde zum Feld geschleppt und ausgezogen. Inzwischen stellten die Frauen Dreifüße über den Flammen auf und hängten Töpfe daran. Einer dieser Töpfe war, wie Japeth sehen konnte, zum Teil schon mit einer dicken milchigen Flüssigkeit gefüllt, die an die Maiscremesuppe seiner Mutter erinnerte.
    Der Geruch war ganz anders als alles, was Japeth jemals gerochen hatte.
    Er war köstlich. Erinnerte angenehm an einen Hühnerbrusteintopf, den er so gern mochte. Oder an ein Gericht mit Kalbfleisch…
    Während er nackt dort im Schein des Feuers stand (es wurde allmählich dunkel), kam Japeth der verrückte Gedanke, dass nun alles gut werden würde. Solange sie mit dem Kochen beschäftigt waren, beachteten ihn die Rüpel nicht – außer einem, der ausgestreckt neben ihm lag, falsch vor sich hin summte und Japeths Knöchel mit eisernem Griff festhielt.
    Dieser tröstliche Gedanke verschwand, sobald Japeth den Rüpelkönig auf sich zukommen sah. Es würde also doch keine freundliche Einladung zum Abendessen werden.
    Hinter dem Kerl liefen zwei Frauen her, die zusammen eine lange flache Wanne, ähnlich einem Wassertrog trugen – nur dass sie einen Deckel hatte. Diesen beiden folgten andere Frauen mit großen bauchigen Krügen, in denen sich billiger Wein und Öl befanden.
    Der Rüpelkönig blieb vor Japeth stehen und schnippte mit den Fingern – worauf der Knöchelhalter aufstand. Die Frauen stellten die trogähnliche Wanne auf den Boden und weitere drei oder vier Rüpel tauchten aus der zunehmenden Dunkelheit auf. Einer hob den Deckel. Andere fassten Japeth an den Armen.
    »Was habt ihr vor?«, fragte Japeth. »Sagt mir bitte, was ihr vorhabt!«
    »Siehst du diese Wanne?«, fragte der Rüpelkönig.
    »Natürlich.«
    »Nun, du wirst ein kleines Bad

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