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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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seinen Notizblöcken hoch oben im Zedernhain festgehalten hatte und dessen Liebe zu Tieren ihn sich selber verstümmeln ließ –, dieser Junge hatte endlich einen anderen Menschen gefunden: eine echte – wenn auch etwas seltsame – voll lebendige und voll atmende Frau. Älter, natürlich – aber was machen schon ein paar Jahre aus, wenn man verliebt ist? Sems Saisonarbeiter würden sich die Zunge heiß reden und ihr Klatsch könnte sogar bis über den Fluss gelangen, dorthin, wo Emmas Familie lebte – na und? Und wenn schon! Machte das was? Das machte doch nichts.
    Nun – doch. Emmas Familie war sanft, lieb und tugendhaft.
    Nein, doch nicht. Es ging sie jedenfalls gar nichts an, wem Ham den Hof machte.
    Mrs Noyes schwankte weiter zwischen »Nein« und »Doch«, zuweilen dreimal in der Stunde. Das Problem war:
    DieLuci, die sie sich insgeheim vorgestellt hatte, war eine bessere Partie als die Luci, die sie – wenn auch sehr selten – in Fleisch und Blut zu sehen bekam. In den romantischen Vorstellungen ihrer Tagträume war Lucis Gestalt – so malte Mrs Noyes sie sich in ihrer Phantasie aus – betörend, weich und weiblich. Biegsam. Betete ihren Sohn an. Respektierte seine Eltern, wie es sich gehört. Doch sobald sie in der vollen Pracht ihrer zweieinviertel Meter vor ihr auftauchte, den Rasen überquerte oder mit gespreizten Knien auf dem Zaun saß und Japeths Wölfe misstrauisch beäugte, änderte sich das Bild radikal – wie sollte eine Mutter sich da keine Sorgen machen?
    »Ich habe sie im Wald kennen gelernt, Mama.«
    Nun – wirklich – war das gut genug?
    »Ich glaube, dass ich sie liebe.«
    Aber er kannte sie doch gar nicht.
    »Ich glaube, dass sie mich liebt.«
    Mmm – hmm.
    » Wir wollen heiraten.«
    Das Drei-Tage-Wunder! (Ob sie schon schwanger war?)
    »Vielleicht könntest du mit Papa reden.«
    Vielleicht könnte sie mit Papa reden! Mama sollte also wieder mal die Wogen glätten! Immer wenn deine Kinder in Schwierigkeiten geraten – kommt diese Frage: »Mama, könntest du mit Papa reden?«
    Der Einzige, der das nie getan hatte, war Sem. (Andererseits – in wie viele Schwierigkeiten kann ein Ochs geraten?)
    Also – hatte sie es getan. Sie hatte »mit Papa geredet«.
    Die Antwort war nein. Natürlich. Dazu noch der Vorwurf, dass sie an allem schuld sei.
    »Wenn du den Jungen nicht verhätschelt hättest, wäre er jetzt alt genug, um eine Hure zu erkennen, wenn er eine sieht«, hatte Noah gesagt.
    Wie konnte er so was Entsetzliches sagen! Luci eine Nutte? Eine Hure? Eine Kurtisane? Nein.
    Und doch…
    Diese Schminke. Ihre Klamotten. Ihr plötzliches Auftauchen. Und diese Augen.
    Mottyl war allein auf der Veranda, als sie Ham und Luci erblickte. Jahwe und Doktor Noyes schliefen noch. Mrs Noyes, die sich nicht traute, ihre Salate allein zu lassen, aus Angst, sie könnten ohne sie verwelken, machte in der Küche ein Nickerchen – der Ginkrug war diskret in ihrer Schürze versteckt. Auch Emma war eingeschlummert; ihre Arme hingen noch in einen Bottich mit Seifenlauge.
    Zuerst kam Ham – mit dem Gang eines glücklichen
Träumers –, er plapperte und warf mit Auskünften um sich, wie ein Wasserrad, das Wassertropfen versprüht.
    Hinter ihm kam Luci, laut lachend – mit ihren ganzen zweieinviertel Metern über dem Hitzeflimmern nicht zu übersehen. Es schien Ham nicht bewusst zu sein, dass sie hinter ihm durch die Luft schwebte, und als er sich umdrehte, stand sie schon auf dem Rasen, gerade so nah, dass Mottyl sie mit ihrem einen guten Auge erkennen konnte; der Sonnenschirm balancierte in der Luft über ihrem Kopf und das lange rosa Gewand mit den Schmetterlingsärmeln glitzerte in der Sonne, als Luci herumwirbelte und sich ins Gras plumpsen ließ. Sie lachte noch immer.
    »In Jahwes Karawane sind fünfzehn Tierarten, die ich noch nie gesehen habe. Fünfzehn Tierarten zu klassifizieren…«, hörte Mottyl Ham sagen.
    »Ich habe sie erkannt – jede Einzelne«, sagte Luci. »Hast du noch nie einen gefleckten Leoparden gesehen?«
    Sie deutete auf das Gras neben sich – und Ham geriet aus Mottyls Blickfeld.
    Mottyl, neugierig geworden, kletterte auf das Verandageländer, damit sie Ham wieder sehen konnte. Er lag im Gras – Luci saß –, über beiden schwebte der Sonnenschirm. (Schwebte – schwebte – wie Hannahs Feder… hielt Luci den Sonnenschirm überhaupt? Wenn ich nur sehen könnte!)
    Dort saß Ham, den Mottyl liebte – und dort saß auch die Engelfrau, die so viel Angst vor Hunden hatte,

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