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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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Gegenwart. Warum schreist du nicht? Vielleicht hört sie dich…
    Nein. Es würde sie erschrecken.
    Mrs Noyes stolperte zum hundertsten Mal und fiel auf die Knie, dort, wo das Gras an den Hochwasser führenden Fluss grenzte. Als sie sich im Knien zurücklehnte und auf die Fersen setzte, dachte sie, dass ihr Körper von Schmerzen und blauen Flecken allmählich genug hatte.
    »Verdammt noch mal – es tut weh, wenn man hinfällt«, sagte sie laut.
    Jemand hörte sie – und da war eine Geräuschfläche, die durch das Gras huschte.
    Feen? Am Fluss? Das war unerhört. Sie gingen niemals zum Fluss. Sie könnten von der geringsten Strömung erfasst und weggespült werden.
    Kletterten sie etwa an ihr empor?
    Mrs Noyes tastete mit ihren schmerzenden Fingern die nassen Falten ihrer Röcke und Schürzen ganz sorgfältig ab – und fühlte in ihren Taschen. Doch sie fand nur ihre schmutzigen Stofffetzen und die übliche Sammlung von zerrissenen Spitzenhauben und Schnurresten… Sie tastete auch ihre Schultern ab – aber auch da waren keine Feen.
    Keine.
    Trotzdem war sie sicher, dass sie ganz in der Nähe waren, und sie sprach zu ihnen. »Ihr solltet besser nicht hier sein«, sagte sie – ohne genau zu wissen, wohin gewandt sie es sagen sollte. »Es ist gefährlich…«
    Wieder eine Geräuschfläche – sie bewegte sich links von ihr und dann parallel zu ihrer hockenden Gestalt in einer Entfernung von etwa acht Schritten. Mrs Noyes sprach sie direkt in ihrem »Mutterton« an; ausnahmsweise war sie froh, dass sie ihre Stimme fast verloren hatte. Bestimmte Sorten von Menschenstimmen – jede Stimme, wenn sie laut war – konnten die Feen wie ein Orkan wegblasen und sie in die Bäume schleudern. Mrs Noyes dachte an das letzte Mal, als sie den Feen zugerufen hatte – damals, als sie über das Haus flogen und das verbotene Zeichen für das Unendliche gemacht hatten, was – wie Luci ihr später erklärt hatte – eine Warnung war: Die Zeit ist nicht das, wofür du sie hältst. Sei auf der Hut! Jetzt war es an Mrs Noyes, die Feen zu warnen.
    »Ihr solltet über die Straße und in den Wald zurückgehen, wo ihr hingehört und wo ihr sicher seid«, sagte sie. »Der Fluss birgt Lebensgefahr.«
    Sie konnte sie jetzt sehen – das heißt, sie konnte die Druckstelle sehen, wo sie standen; es war offensichtlich eine sehr große Versammlung – vielleicht sogar eine ganze Gemeinde: hunderte, die mindestens einen Quadratmeter durchnässten Grases bedeckten. Das Geräusch kam näher – aber nur ein Teil, und es kam grüppchenweise. Vielleicht schickten sie ihr eine Delegation. Das Geräusch, das sie machten, klang, als würden sich Kristalle bilden – Klänge wie von Glas, »fast wie Windspiele«, hatte Mrs Noyes Hannah einmal erklärt, die noch nie Feen gesehen oder gehört hatte. »Windspiele – aber ohne…« Mrs Noyes fand es sehr schwierig, das Geräusch zu beschreiben. Der Klang war einmalig.
    »Ja?« Mrs Noyes sprach zum Boden gewandt; ganz aufrecht saß sie auf ihren Fersen und zog ihr Tuch um die Schultern. »Klettert bloß nicht an mir hoch«, sagte sie. »Ich werde gleich gefährlich für euch. Ich werde jetzt den Fluss überqueren, um das Kind da drüben zu holen – ihr würdet ertrinken.«
    Irgendwo unten an ihrer Hüfte fand eine Konferenz statt.
    Mrs Noyes wartete und spähte durch den Dunst nach Lotte, die immer noch am anderen Ufer auf und nieder ging. Ihr Kleid war jetzt triefnass. Vielleicht hatte sie versucht den Fluss zu überqueren, während Mrs Noyes von den Feen abgelenkt wurde.
    »Sagt mir schnell, was ihr von mir wollt!«, sagte sie.
    Im Gras war ein Raunen, dann spürte Mrs Noyes, wie ein Zittern über ihre Haut lief. Die Delegation bestieg sie – wie die Arche –, sie kletterte an ihrem Oberschenkel empor und auf ihren Arm…
    »Aber – ich werde doch durch den Fluss gehen«, protestierte sie; sie hatte Angst um die Feen. »Versteht ihr denn nicht – ihr werdet sterben…« Dann dachte sie: Warum fliegen sie nicht? Was ist nur mit ihnen los? Vielleicht sind sie krank… »Ich werde schwimmen müssen«, sagte sie. »Versteht ihr nicht?« Aber all ihre Proteste waren vergebens. Die Delegation stieg weiter hoch, an ihrem Ellbogen vorbei und über die Falten ihres Tuches auf ihre Schultern zu. Sie fühlte, wie sie dort verharrte – und sie wartete, ohne sich zu rühren.
    Dann wurde ein Signal gegeben – eine Art gläserner Schrei –, und Mrs Noyes sah, wie das Gras wogte – und sie hörte ein wellenhaft

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