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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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da sie so völlig allein war, nicht wusste, welcher Tag es war, sich ausschließlich von Äpfeln ernährte und auf den Bäumen schlief. Es gab allerdings Augenblicke – während sie durch die Felder ging oder irgendeinem jungfräulichen Pfad folgte, in denen sie merkte, dass nach und nach die Zivilisation von ihren Schultern abfiel, und dafür war sie dankbar. Welch eine Last sie gewesen war! »Das kann ich euch sagen!« (Sie rief es laut den Vögeln zu.) All diese Manieren – all diese Benimmregeln: »mein Herr« und »gnädige Frau« – Kratzfüße und Handküsse – auf Befehl hinfallen und wieder aufstehen – das alles einhalten zu müssen. Messer und Löffel und Teller in der richtigen Reihenfolge zu benutzen – die Haare hochzustecken und Hauben und Kopftücher und Schleier tragen zu müssen, um dies, das und jenes zuzudecken, damit die Herren der Schöpfung nicht verleitet würden – und zuzulassen, dass das alles weggerissen wurde, wenn dein Ehegatte sein Vergnügen haben wollte. Der zeitliche Druck – der tägliche Ritus der Gewalt – das ganze Beten und das Blut und der Wein – die Eintönigkeit des Protokolls: um Erlaubnis bitten zu müssen, wenn man sprechen, etwas berühren, sich bewegen wollte. Und die Lügen… und das leere Lächeln… und die versteckten Ginkrüge…
    Eines Morgens hob Mrs Noyes ihre Röcke hoch, hockte sich voll im Blickfeld der Fenster eines verlassenen Wagens hin – und pinkelte.
    War das herrlich!
    Einfach dort zu hocken, die Knie auseinander, Oberschenkel und Scham dem Regen dargeboten – und die süße Erleichterung beim Gießen des Grases…
    … als ob das Gras gegossen werden müsste…
    Doch dann – plötzlich – stand Mrs Noyes blitzschnell auf und ließ den Saum ihrer Röcke fallen. Sie merkte sogar, wie ihre Hand – unwillkürlich – hochfuhr, um ihr Haar zu befühlen und den Verschluss ihrer Kleidung am Hals zurechtzurücken.
    Da war jemand.
    Ging zu Fuß…
    Mrs Noyes lehnte den Arm an die Stirn, versuchte auf diese Weise ihre Augen vor dem Regen zu schützen.
    Jenseits des Flusses am anderen Ufer bewegte sich eine Gestalt, gebückt – stehend.
    Mrs Noyes war nahe daran zu rufen. Zu winken. Den Berg hinunterzulaufen. Aber sie tat es nicht. Gerade noch rechtzeitig hielt sie inne und blieb stocksteif stehen.
    Vielleicht war das, was da war, gefährlich.
    Was könnte es sein?… Oder wer?
    Wirkte es nur so klein, weil es so weit weg war – oder war es ein Tier… ein Zwerg… ein Kind?
    Eine Sinnestäuschung? Der Geist von irgendjemand? Ihrer Mutter?…
    »Ach! Meine Mutter…«
    Mrs Noyes rieb sich die Augen.
    Nein. Es war nicht der Geist ihrer Mutter und es war kein Trugbild. Es war wirklich jemand da. Eine Person.
     
     
    Der Fluss war stark angeschwollen und die Strömung inzwischen so schnell, dass selbst die größten Gegenstände flussabwärts getrieben wurden – ganze Bäume, landwirtschaftliche Fahrzeuge, Wegweiser und öffentliche Hinweisschilder aus den fernen Städten: MARKTSTRASSE und BEKANNTMACHUNG: HIERMIT TEILEN WIR MIT, DASS…
    Die Person – wer immer es auch war – versuchte offensichtlich den Fluss zu überqueren, fand aber keine Möglichkeit dazu. Die Untiefe, die sich früher an der breitesten Stelle der Biegung befunden hatte, war jetzt zu einem tiefen, reißenden Wasserfall geworden. Auf und ab ging die Person an der Uferböschung – gelegentlich wagte sie sich bis ins Wasser hinein – und wich dann voller Angst schnell wieder zurück. Mrs Noyes blieb auf ihrem Hang und schaute hinüber, ging unbewusst ein paar Schritte auf die Flussauen zu, wobei sie ihre Schürzen voller Äpfel mitschleppte.
    Soweit sie es erkennen konnte – obwohl der Dunst das Sehen sehr erschwerte, jede Gewissheit unmöglich machte –, musste das die Gestalt eines Zwerges sein. Die Beine waren extrem kurz. Vielleicht war es auch ein Kind, dachte Mrs Noyes, und ging wieder unwillkürlich ein paar Schritte weiter. Inzwischen war Mrs Noyes, ohne dass sie es gemerkt hatte, ganz unten am Berghang angekommen; jede neue Gewissheit über die Gestalt am Flussufer brachte sie dazu, wie von einem Magnet angezogen, auf sie zu zu gehen. Die Gestalt trug eine Art Kinderkleid: etwas zerrissen und aus heller Baumwolle. Das Kleid hatte kleine Puffärmel, am Saum eine Rüsche und einen weichen weißen Kragen. Ein ganz schönes Kleid eigentlich, das um die Taille ein breites blaues Band mit einer Schleife hinten hatte.
    Eine verstörende Erinnerung stieg in Mrs Noyes’

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