Die letzte Flut
Kopf auf, während sie das Geschöpf beobachtete, wie es langsam und geduldig zum Fluss hinunter- und wieder zurückging… wie es das Wasser anstarrte… wie es sich bückte – ungeschickt – um es zu berühren, um sicher zu erfahren, dass es wirklich da war… und dann wieder zurückwich – das langsame, fast traurige Grübeln, als es die Steine absuchte und nachdachte, wie es sie nutzen könnte…
Sie.
Lotte.
Es war Lotte, Emmas Schwester.
Mrs Noyes rannte, ließ beide Apfelschürzen fallen, hob ihre Röcke hoch, um schneller über das Gras und über die Straße und über die Steine laufen zu können.
Du lieber Gott – es war Lotte. Allein.
Lotte war Emmas ältere Schwester – obwohl keiner der Noyes jemals erfahren hatte, wie alt sie wirklich war. Sie wussten nur, dass Emma elf war, als sie Japeth angetraut wurde – und das war etwa ein Jahr her. Aber Lottes Alter war unwichtig. Zumindest das Alter ihres Körpers. Was zählte, war ihr geistiges Alter – und das wurde als »irgendwo zwischen zwei und null« geschätzt, wie Noah es beschrieben hatte, ihre eigenen Eltern allerdings sprachen niemals so über sie. Lottes Eltern liebten sie – auch wenn es gefährlich war, ein solches Kind zu lieben. Man musste seine Existenz verheimlichen, und für Lotte hatten ihre Eltern ein Leben abseits vom Leben ihrer anderen Kinder – abseits von jedermann – eingerichtet. Mrs Noyes wusste Bescheid über diese Dinge, denn auch sie hatte vor vielen Jahren ein Kind wie Lotte bekommen. Und sie hatte das getan, was die meisten Leute in dieser Lage taten.
Sie hatte es getötet.
Wenn man es nicht selber tötete, kamen manchmal andere Leute und nahmen einem das Töten ab. Dies war die Regel allerdings nicht Gesetz. Das Gesetz schwieg über so etwas – vielleicht, weil man davon ausging, dass jeder zivilisierte Mensch die Regeln kannte. Eine kurze Zeit hatte Mrs Noyes die Regeln missachtet; sie hatte es ihrem verbotenen Kind erlaubt zu leben, so wie es Lotte erlaubt wurde zu leben; die Folgen waren tragisch. Sie hatte das Kind in seinem allzu kurzen Leben lieben gelernt – und das war ihr Verhängnis. Mrs Noyes hatte ihr unwillkommenes Baby ihren Paria – nie vergessen – und auch nicht, wie sie es verloren hatte. Deshalb hatte sie Lottes Eltern, weil sie den Mut hatten, sie zu behalten, bewundert, doch sie hatte sich ihretwegen auch Sorgen gemacht (»um sie getrauert« wäre ein noch besseres Wort), denn das Schicksal eines solchen Kindes war unerbittlich.
Mrs Noyes konnte sich noch erinnern, wie sie das allererste Mal auf Lotte aufmerksam wurde.
Eines Abends – Monate vor Japeths und Emmas Hochzeit – Monate vor ihrer Verlobung – war sie zum Fluss gegangen, um in der Dämmerung nach Flusskrebsen zu suchen. Mottyl war bei ihr. Es war Frühling oder vielleicht gerade Frühsommer. Alle Bäume am Waldrand jenseits des Flusses trugen blasse junge Blätter und ihr Duft, der Duft ihres süßen triefenden Harzes, erfüllte die Luft. Mit seinem Vogelgezwitscher und Lemurengeschnatter, mit seinem Dunst und seinem blassen orangefarbenen Licht war der Abend wie verzaubert. Mrs Noyes hatte zusätzlich zu ihrem Eimer auch eine Laterne mitgenommen – obwohl sie diese erst später würde anzünden müssen. Sie nahm an, dass man sie nicht zu deutlich sehen konnte (ihre Röcke waren gerafft und ihre Sandalen hatte sie weit hinter sich auf die Steine geworfen), denn hell war es nur am anderen Ufer. Am Wasserrand bückte sie sich. Sie hob Kieselsteine auf, versuchte die Krebse nicht zu erschrecken, und ihre Finger tasteten durchs Wasser, als ein Schatten – oder eine Spiegelung – ihren Blick anzog… Mit dem Kopf nach unten gingen Leute im Wasser spazieren… sie hörte Lachen.
Mrs Noyes schaute auf und da erblickte sie Lotte zum allerersten Mal. Lotte – mit dem Holzfäller und seiner Frau – erst dachte sie, die beiden würden ein Haustier spazieren führen. Bis sie bemerkte, dass das »Haustier« ein Kleid trug.
Da bummelten, trödelten, schlenderten die drei im Abendlicht, so wie Mrs Noyes es auch gerne tat – Vater und Mutter hielten Lotte an einer Hand –, und Mrs Noyes stand wie verwandelt da, denn dieses Bild zeigte ihr eine Art von Wonne und Glück, die sie selbst hinter sich gelassen hatte, die sie sich und ihrem Kind durch ihre Einwilligung in seine Ermordung verweigert hatte.
Mrs Noyes drang durch den Dunst – behielt das Kind ständig im Blick, bewegte sich zwischen Vergangenheit und
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