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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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ein großes Loch. Verzweifelt versuchte sie mit den Zehen den Boden zu erreichen, doch er sackte immer wieder weg.
    Als die letzte Kraft ihre Arme und Beine verließ und ihre Lungen gerade dabei waren, sich mit Wasser zu füllen – sie hustete und spuckte und war sich sicher, dass sie sterben würde –, fühlte Mrs Noyes endlich feste Felsen unter ihren Fersen. Das Loch lag hinter ihr.
     
     
    Sie musste sich ans Ufer ziehen; als Haltegriffe benutzte sie die Äste ufernaher Sträucher – zu denen sie betete: »Haltet, bitte!« Mit einem letzten Zug hievte sie sich auf den Lehm oberhalb des Wasserpegels, die Arme ausgestreckt und ihre Hände im platt gedrückten Unkraut.
    Lotte steckte die Finger in den Mund und starrte.
    Mrs Noyes blickte auf und sah sie – und ein großes, breites Lächeln brachte Lottes Zähne alle zum Vorschein und ganz langsam fing sie an, vor Vergnügen auf und ab zu wippen.
    Mrs Noyes kroch über den Lehm und das Unkraut und die Felsen, bis sie dachte, dass sie genug Kraft hätte, um aufzustehen. Als sie stand, bedeutete sie Lotte, zu schweigen, und führte ihre Finger zu ihren Haaren.
    »Seid ihr noch da? Seid ihr noch da?«, flüsterte sie den Feen zu.
    Zuerst sah es aus, als würde sie keine Antwort erhalten, aber dann – ganz langsam – bewegte sich etwas, etwas kitzelte, und ein Geräusch wurde hörbar, ganz schwach.
    Mrs Noyes ging die Uferböschung weiter hinauf und, so nahe sie es wagte, an die Bäume heran; deren Anblick verursachte auf ihrer Kopfhaut große Aufregung.
    »Soll ich euch zu Boden lassen?«, fragte Mrs Noyes. »Die Bäume könnten gefährlich sein, wisst ihr. Dies ist der Forst, nicht euer Wald.«
    Die Antwort war ein Ziehen an fast jedem Haar auf ihrem Kopf.
    »Gut – dann werde ich hier niederknien und euch runterlassen.«
    Mrs Noyes kniete sich hin und senkte den Kopf wie beim Gebet, bis er den Boden berührte. Die Feen drängten allesamt nach vorne, schrien und sangen und standen schließlich vor ihr im Gras. Mrs Noyes blickte auf und schaute sie an. Lotte kam und stellte sich neben sie – streckte die Hand aus, damit sie sie festhielt. Offensichtlich verstand sie, dass die Feen anwesend waren, denn auch sie starrte den Boden vor Mrs Noyes an, die Stelle, wo das Unkraut niedergedrückt und ganz besonders nass war.
    »Auf Wiedersehen«, sagte Mrs Noyes. »Auf Wiedersehen – und alles Gute!«
    Ein Glockenton schwoll an – ganz gläsern –, ganz eindeutig: ein Hurraruf!
    Danke.
    Mrs Noyes nickte und stand auf; immer noch hielt sie Lottes Hand. Die Erde vor ihnen wurde von einem breiten Schweif des immer leiser werdenden Feengeräusches gefegt – und weg waren sie.
    Aber nicht weit weg. Als hätte die Zerreißprobe im Fluss ihre Kräfte auf magische Weise wiederhergestellt, gingen die Feen auf die Riesenbäume los, deren heraussickerndes bernsteinfarbenes Harz offensichtlich ihre Grundnahrung war. Einige Feen schafften es sogar zu fliegen – aber ihr Flug war sehr kurz und sie hoben kaum vom Boden ab.
    Jetzt kletterten sie – flatterten, kämpften sich hoch zu den klebrigen Harztropfen, und als sie sie endlich erreichten, entstand eine solche Aufregung und ein solches Entzücken, dass es wie ein Aufstand war – fast eine Orgie. Irgendwie würde das Harz sie retten – das war sicher: so wie die Äpfel Mrs Noyes gerettet hatten. Und Mrs Noyes fragte sich, wie es möglich war, dass sie den Bäumen in ihrem Leben so wenig Achtung geschenkt hatte.
    Lotte begann zu plappern und zu weinen. Sie war so lange allein am Fluss gewesen, dass sie alle Hoffnung aufgegeben hatte, jemand würde kommen und sie retten.
    »Wo sind denn deine Eltern?«, fragte Mrs Noyes.
    Lotte schwieg.
    »Sind sie in die Stadt gegangen?«
    Lotte schüttelte den Kopf und sah auf ihre Füße.
    »Sind sie zu Hause?«
    Wieder schüttelte Lotte den Kopf; sie wich Mrs Noyes’ Blick aus.
    »Bist du weggelaufen?« (Nein.) »Weiß jemand, wo du bist?« (Vielleicht.) »Solltest du hier auf jemand warten?« (Eigentlich nicht. Nein.) »Lotte. Sag mir die volle Wahrheit!…« Mrs Noyes biss sich auf die Lippe, bevor sie die letzte Frage stellte. Sie fürchtete, dass sie die Antwort kannte – und sie wollte sie nicht bestätigt haben. Dennoch – die Frage musste gestellt werden. »Haben sie dich hier zurückgelassen?«
    Lotte legte die Arme hinter den Rücken und scharrte mit den Füßen auf dem Boden, während sie die Lippen spitzte und über die Antwort nachdachte.
    »Lotte…? Sag es mir!«
    Lotte

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