Die letzte Flut
blickte auf. Ihre Augen waren voller Tränen.
»Haben sie dich verlassen?«
Ja.
Mrs Noyes lief zu ihr hin, warf sich vor dem Kind auf die Knie und umarmte es. »Keine Sorge«, sagte sie. »Ich werde dich durch den Fluss bringen. Ich werde dich durch den Fluss und auf den Berg bringen… siehst du, wohin ich meine?« Mit dem Finger zeigte sie in die Ferne und Lotte schaute ihm nach. »Wir werden zusammen den Berg hinaufgehen und dort in Sicherheit sein. Das verspreche ich dir. In Ordnung?«
Lotte nickte und legte ihre Arme um Mrs Noyes’ Hals. Mrs Noyes küsste sie und erhob sich, das Kind hielt sie noch immer. Sie schaute auf den Fluss; er war jetzt noch breiter und tiefer als vorher. »Das kann ich wirklich gut – Flüsse überqueren und Leben retten…« Um Lottes willen versuchte sie zu lachen. »Gerade habe ich all diese Feen gerettet. Hast du sie gesehen? Es waren hunderte.«
Lotte nickte. Sie spielte herum – fingerte an Mrs Noyes’ Kleid – nahm die Kordeln am Halsausschnitt und lutschte daran.
»Du musst nur eines tun«, sagte Mrs Noyes: »Auf meine Schultern klettern und dich festhalten! In Ordnung?«
Lotte nickte.
»Also rauf mit dir!«
Mrs Noyes hievte Lotte auf ihren Rücken und ging die Uferböschung hinunter.
»Hab keine Angst!«
Das Erste, was sie beim Überqueren der Böschung sahen, war eine große Gruppe Schafe, alle tot, die den Fluss hinuntertrieben.
Weiter draußen war eine große, flache Leiche, die man nicht erkennen konnte – langsam drehte sie sich in der starken Strömung –, eine Leiche so groß, dass sie eine ganze Sammlung von Schutt vor sich herschob – kaputte Stühle und eine Glasvitrine; Schuhe, die irgendjemandem gehört hatten, und einen Sonnenhut.
Mrs Noyes wich zurück. Etwas – eine menschliche Hand vielleicht – hatte unter der Wasseroberfläche ihren Knöchel ganz leicht berührt. Sie konnte es nicht riskieren, Lotte in so etwas hineinzuziehen; das Kind würde vor Angst verrückt werden. Schon jetzt brüllte sie und schlug Mrs Noyes aus Protest auf die Schulter.
Nein.
Es musste eine andere Möglichkeit geben hinüberzukommen.
Die nächste Brücke war meilenweit weg. Sie würden sie vor Einbruch der Dunkelheit niemals erreichen.
Mrs Noyes setzte Lotte auf den Boden und hielt sie an der Hand fest.
»Hab keine Angst!«, murmelte sie. »Ich verlange nicht von dir, dass du durchs Wasser gehst. Ich werde irgendeine Methode finden, eine Brücke zu machen…«
Sofort sah Lotte verständig zu den Bäumen hoch. Schließlich waren ihr Vater und ihre Brüder Holzfäller gewesen. Lotte hatte bestimmt oft zugesehen, wie Bäume gefällt wurden. Vielleicht auch, wie Brücken gebaut wurden. Aber wie sollte Mrs Noyes das ohne Axt schaffen? Es war unmöglich. Vielleicht durch Drücken?
Trotz ihrer Zweifel ging sie hin und begutachtete die Bäume, um zu sehen, ob man irgendwelche durch Drücken bewegen könnte – und während sie das prüfte, war ihr Rücken dem Fluss zugekehrt. Lottes Rücken dagegen nicht – und nach einem Augenblick fing sie an, Mrs Noyes sehr fest an ihrem Ärmel zu ziehen.
Schließlich drehte sich diese um und schaute und sah: ein Wunder auf dem Fluss – ein Mann in einem Ruderboot.
»Hallo!«, rief sie.
Der Mann hörte sie nicht.
Mrs Noyes lief zum Flussufer, Lotte klammerte sich an sie, und rief nochmals: »Hallo!«
Der Mann reagierte auch diesmal nicht.
Vielleicht war er taub. Vielleicht war das Geräusch des tosenden Wassers auf dem Fluss lauter als am Ufer.
Mrs Noyes winkte.
Nichts.
Der Mann saß allein in dem Ruderboot – er saß genau in der Mitte und er hielt die Ruder in seinen Händen. Er schien sich auf seine Tätigkeit zu konzentrieren, obwohl sehr wenig Kraft hinter seinen Bemühungen erkennbar war. Das Ruderboot hatte sogar angefangen, sich in den Strudeln herumzudrehen und kam jetzt langsam auf das Ufer zu.
Mrs Noyes betrachtete den Mann im Boot genauer – dazu musste sie sich weit nach vorne lehnen…
Und dann traf sie eine Entscheidung.
»Du musst hier warten, Lotte. Versprich mir, dass du dich nicht vom Fleck rührst! Ich gehe nur hin, um dem netten Mann dabei zu helfen, sein Boot ans Ufer zu bringen. Dann können wir ans andere Ufer rudern. Wird das nicht wunderbar sein?«
Schon rutschte und glitt Mrs Noyes die Böschung hinunter; dann tauchte sie bis zur Taille ins Grauen des Wassers ein. Etwas berührte sie ständig – zupfte an ihr – klatschte unter der Wasseroberfläche gegen sie, und verbissen
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