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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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kollektive Schrei fressender Vögel.
    Mrs Noyes wusste nicht, was sie tun sollte. Wo in aller Welt könnte sie Lotte lassen – sie in Sicherheit lassen? Es war so gut wie unmöglich, angesichts des zunehmenden Niederschlags ein Grab auszuheben. Auf keinen Fall konnte sie Lotte irgendwo draußen lassen – wo alle Aasfresser sich bei den Leichen der geopferten Tiere gesammelt hatten – und sie konnte sie auch nicht einfach im Stich lassen. Dafür hatte sie das Kind zu sehr geliebt.
    Wenn doch nur noch ein Krug mit Gin übrig wäre!
    Und es müsste noch einen geben.
    Müsste. Über die Jahre hatte sie so viele Krüge mit Gin hier draußen versteckt.
    Sie inspizierte das Rankgitter und die Trompetenwinde – aber sie gaben nichts preis.
    Die Kiste, worauf sie ihren Fuß gestützt hatte?
    Nichts.
    Die Fußbodendielen…
    Ja! Das war’s. Oh – bestimmt (sie lag schon auf den Knien und brach sich die Fingernägel beim Versuch, die Planken aus Zedernholz anzuheben) – bestimmt wäre etwas hier. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre muss ich mindestens zweihundert Krüge unter diesen Brettern versteckt haben. Dreihundert.
    Endlich gelang es ihr, zuerst eine Planke, dann noch eine anzuheben, und sie legte sich flach auf den Boden um darunter schauen zu können.
    Da unten war es kühl – und es roch so herrlich nach Erde und verwelkten Blättern und alten Spinnweben. Sie streckte ihre kurzen Arme aus, so weit es ging – zuerst den einen, dann den anderen.
    Ah!
    Ja! Ja!
    Ein – zwei – drei Ginkrüge.
    Aber waren sie voll – halb voll – oder leer?
    Wie Kristallvasen zog sie die Krüge heraus, entsetzt bei der Vorstellung, sie könnte sie kaputtmachen. Bitte. Bitte. Bitte.
    Bete, Lotte, bete!
     
     
    Seit dem Beginn des Regens hatte Mrs Noyes keinen Tropfen Gin mehr gekostet – Noah hatte jeden einzelnen Krug, den sie besaß, zertrümmert oder, genauer, Japeth mit dem Zertrümmern beauftragt. Zumindest – jeden einzelnen Krug, den sie finden konnten.
    Diese drei waren ihnen entgangen.
    Halleluja!
    Und da Mrs Noyes seit dem Beginn des Regens keinen Gin mehr gekostet hatte, war sie seit Jahwes Besuch auch nicht angeheitert oder gar betrunken gewesen.
    »Oh, Lotte…« Sie sang es fast, wie eine Totenklage. »Wenn du all das nur gesehen hättest, als es noch lebendig und himmlisch schön war. Die Veranda – die Aussicht, die sie bot –, meine Katze… den Hof, ohne die Toten… der Blick über die Rasenflächen… den Berg – das Wunder der im Nebel schwebenden Bäume. Die vielen Lemuren, wenn sie die Sonne anschrien, und die Vögel im Flug – oh – Lotte! Wenn du doch jene Welt nur hättest sehen können! Sie sah so – sie duftete so – sie war so kühl. Eine halbe Stunde – eine ganze Stunde, jeden Tag –, man musste nicht schlafen, um träumen zu können. Alles war da draußen – so echt wie du und ich. Wunderbar! Hier draußen habe ich gesungen. Ich und Mottyl. Jeden Abend haben wir gesungen, jede Nacht… und manchmal ging ich dort hinein – zurück ins Wohnzimmer – dann spielte ich und spielte. Und sang. Oh – ich machte sie alle verrückt!«
    Sie lachte.
    »Aufhören! Aufhören! Aufhören! Haben sie dann geschrien. Hör mit dem Katzenjammer auf! Hast du kein Erbarmen? HÖR AUF! Aber ich hörte nicht auf. Niemals, niemals! Ich wurde nur leiser – und sang weiter. Weitersingen – darauf kommt es an.« Mrs Noyes nahm einen langen, kräftigen Schluck und genoss das lange, heftige Brennen, das er auslöste – im Mund – im Hals – in der Brust – im Magen… Mehr. Mehr.
    Sie betrachtete das Kind, das in ihrem Schaukelstuhl schlief.
    »Ich möchte wetten, dass du niemals ein Klavier gehört hast. Vielleicht hast du nicht einmal jemand singen hören. Hast du? Hast du? Horch… Ich weiß was. Ich werde dir jetzt das erste und das letzte Lied, das du jemals hörst, vorspielen. Warte einen Moment! Warte…«
    Mrs Noyes, die jetzt sehr angeheitert war, drängte durch die Tür ins Wohnzimmer, und zündete eine Lampe an. Ihre Ginkrüge neben sich aufgereiht – setzte sie sich auf die Klavierbank, auf der Mottyl früher neben ihr gesessen hatte – und nahm einen mächtigen Zug Gin, der sie prusten und husten ließ. Dann fing sie an zu spielen.
    Sie spielte »Das Rätsellied« und sie spielte »In einem kühlen Grunde«. Sie spielte »Mariechen saß weinend im Garten«, »Die Lorelei« und »Es flog ein kleines Waldvöglein«. Sie spielte »Es ist ein Schnee gefallen« und »Kein schöner Land in dieser

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