Die letzte Flut
ertränkst du nicht auch sie – du Schweinehund! Ertränk doch die Sterne! Wer schert sich schon drum? Und den gottverdammten Mond! Wer braucht ihn denn? Ich nicht – wir nicht…«
Der Pfad wimmelte jetzt von Fröschen und Kröten, die alle Richtung Arche hinaufgingen.
»Kehrt um!«, sagte Mrs Noyes. »Dort wird man euch nicht willkommen heißen. Hockt euch unter eure Pilze! Tut das, was ich jetzt auch tun werde: Begrabt die Toten und dann feiert! Endlich frei, nicht wahr, Lotte? Keine Flüsse mehr zu überqueren. Uns schickt keiner mehr in den Regen hinaus.«
Da war das Haus.
Sie konnte das Dach sehen – mit dem Moos und den Schlingpflanzen, den Dachziegeln, den Kaminen, den Nestern, sogar den Störchen.
»Habt ihr keinen Verstand?«, schrie sie ihnen zu; der Schrei war eigentlich nur ein Flüstern. »Warum hockt ihr immer noch da, begreift ihr denn nicht, ihr blöden, blöden Störche! Das Ende der Welt naht!«
Beim Anblick ihres Hauses weinte sie vor Zorn. Es hatte doch ein Zufluchtsort sein sollen. Wozu waren Häuser sonst gut? Warum sonst vier Wände hochziehen und ein Dach darauf setzen? Sogar die Störche wussten die Antwort darauf – und die Mäuse und die Ratten, die in den Wänden gelebt hatten, und die Spinnen in den Ecken und die Rüsselkäfer in den Dielen. Sogar eine Termite wusste das!
»Macht nichts«, sagte sie und tätschelte Lotte den Rücken. »Wir wissen, wozu Häuser da sind. Ich hätte die Störche nicht anbrüllen sollen. Was bin ich für eine Närrin. Das Dach ist alles, was sie noch haben.«
Sie hatte die Terrasse erreicht, wo sie früher Sonnenblumen gezüchtet hatte – die letzte Ebene vor den Stufen, die zum Badhaus und zu den Latrinen führten. Von hier aus konnte sie den Hof sehen – das Krematorium, wo die verkohlten Leichen der Rinder, Schafe und Ziegen, der Hunde, Ochsen und Pferde verstreut lagen. Raben und Bandikutratten und Geier verrichteten ihre Arbeit – trotz des Regens.
»O Gott…«, sagte sie.
Lotte.
»Hier kann ich dich nicht lassen. Hier kann ich dich ihnen nicht überlassen…«
Mrs Noyes kehrte um und rannte den Weg hinauf auf die Zedern zu. Aber sie war noch keine zehn Schritte gegangen, da hielt sie an.
»Ich kann dich nirgendwo lassen.«
Oder?
In ihrer Verzweiflung drehte Mrs Noyes sich noch einmal zur Terrasse und den Stufen um. Und zum Beinhaus, das einst ihr Zuhause gewesen war.
»Wo ist deine Mutter?«, fragte Noah Ham auf dem Deck der Arche.
»Weg«, sagte Ham.
»Das sehe ich wohl. Aber wohin?«
»Ich weiß es nicht, Vater. Ich bin nicht mitgegangen.«
Luci kicherte unter dem sich langsam auflösenden Sonnenschirm.
Noah, dessen schwarzer Regenschirm dem Wolkenbruch ohne einen einzigen Riss, ohne ein Loch standhielt, schleuderte Luci einen Blick entgegen – sagte aber nichts.
»Ich glaube nicht«, sagte er zu Ham, »dass dies der richtige Augenblick ist, um leichtfertig zu sein.«
»Im Gegenteil, Vater, ich hätte gedacht, dass all unsere Gebete Leichtigkeit zum Thema hätten.«
Wieder Kichern – Luci, die auf einem Fuß stand, drehte sich geziert weg.
Noah wurde rot; er erkannte, dass Ham allmählich die Oberhand gewann; das durfte nicht sein – vor allem nicht vor dieser kichernden, weiß geschminkten Geisha. »Und was genau willst du mit dieser Bemerkung sagen?«
»Ich meine nur, dass es klug sein könnte, uns an Gott zu wenden, falls die Arche nicht schwimmt.«
Noah warf wieder einen Blick auf Luci; er wollte sehen, ob sie auch diesmal kichern und ihm damit zeigen würde, ob die Bemerkung lustig war.
Offensichtlich war sie es nicht; Luci schwieg.
»Ich weise dich darauf hin«, sagte Noah zu Ham, »dass, wenn deine Mutter nicht an Bord dieses Schiffes gebracht wird – und zwar noch heute – es vollkommen gleichgültig ist, ob es schwimmt oder nicht.«
»Das weiß ich, Vater.«
»Was gedenkst du also zu tun?«
»Ich könnte sie ja suchen, Vater. Vorausgesetzt, Sie würden es erlauben.«
»Ja. Ja. Ich würde das erlauben.«
»Danke, Vater.« Ham machte einen Schritt in Richtung Landungssteg.
»Und nimm deine Frau mit!«
»Ja, Vater.«
Mrs Noyes setzte Lotte, zusammengerollt, als würde sie schlafen, in ihren Schaukelstuhl. Ihr Affenkörper ähnelte dem eines Menschenkindes so sehr, dass Mrs Noyes erschrak und laut sagte: »Aber das ist ein Menschenkind! Lotte ist von Menschenfleisch geboren wie mein Adam; macht sie das nicht zum Menschen?« Die einzige Antwort, die ihr darauf zuteil wurde, war der
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