Die letzte Flut
auf.
»Dein Vater ist also Magier?«, sagte Luci.
»Ja. So etwas Ähnliches«, sagte Ham.
»Kann er Gold herstellen?«
»Er hat’s versucht.«
»Und?«
»Nicht geschafft.«
Luci lächelte. Sie saßen auf einem Felsen unter der dichtesten aller Zedern, wo sie vor Regen fast geschützt waren. Luci streifte das letzte Stück Papier von ihrem Sonnenschirm ab – legte den Bambusrahmen frei.
»Das geht den meisten so«, sagte sie, »es nicht zu schaffen.«
»Den meisten?«, fragte Ham. »Da habe ich aber etwas anderes gehört.«
»Oh?«
»Keiner schafft es«, sagte Ham. »So etwas wie Alchemie gibt es nicht. Naturwissenschaftlich gesehen ist es Unsinn.«
»Muss denn alles naturwissenschaftlich sinnvoll sein, ehe du es glaubst?«
»Fast alles. Das heißt – mir ist schon klar, dass es Ausnahmen gibt… die Musik zum Beispiel. Ja, man kann auch aus der Musik eine Wissenschaft machen – aber wenn man daraus eine Wissenschaft macht, hört sie meines Erachtens auf Musik zu sein. Und wird…«
»Was?«
»Zu vernunftbetont, nehme ich an. Berechnet und mit Bedacht überlegt. Nicht mehr abenteuerlich.«
Ham legte seine Hand auf Lucis Knie. »Ich weiß nicht, wieso ich auf einmal so viel Glück hatte«, sagte er. »Dass ich dich gefunden habe! Die vollkommene Geliebte und die vollkommene Gefährtin. Früher musste ich all diese Gespräche immer alleine führen – nur ich und mein Notizbuch.«
»Hast du nie mit deinem Vater über diese Dinge diskutiert?«
»Mit meinem Vater hat man keine ›Diskussionen‹, Luci. Man hat Auseinandersetzungen und Edikte. Das Problem mit ihm ist: Auch wenn man es ihm wissenschaftlich beweisen kann, findet er irgendeinen Weg, alles zu widerlegen. ›So etwas wie ein Wasserrad gibt es nicht, Junge!‹, rief er. Auch als ich ihm eins gezeigt habe.«
Luci lachte.
»Aber als vulkanische Asche von einem Augusthimmel fiel, war sie ›Schnee‹\ Ein Wunder! Das glaubt er. Wunder und Alchemie. Auch wenn ihm beides nicht gelungen ist.«
»Gut«, sagte Luci und hob den Sonnenschirm über ihre Köpfe. »Eines Tages werde ich es ihm beibringen.«
Ham richtete sich auf und sein Mund stand vor Überraschung offen.
Luci stand auf und wischte den Dreck weg, der von der Zeder auf ihr Federkleid gefallen war. »Komm jetzt!«, sagte sie. »Wir sollen doch deine Mutter suchen.«
Ham sprang auf – wich zurück – von ihr weg. »Aber…« Er starrte den Sonnenschirm an.
»Was hast du nur?«, fragte Luci.
»Er ist…« Ham deutete auf das, was nur Augenblicke vorher ein Skelett aus Bambus war. »Er ist mit Gold überzogen.«
»Das stimmt.«
»Aber…«
»Ich hab es dir gesagt, Schätzchen, nicht wahr?« Sie streckte ihre Hand aus und kitzelte ihn mit ihren geübten behandschuhten Fingern unter dem Kinn. »Eines Tages werde ich es deinem Vater beibringen. Aber im Augenblick ruft die Mutter. Komm!«
Mrs Noyes saß ganz ruhig und aufrecht und betrunken auf der Aussteuertruhe am Eingang.
Ihrer Vorstellung nach »versperrte sie den Weg«, wie einst der Engel im Garten Eden. Das hier war eine ganz neue Welt, eine Welt, in der einige Leute Schiffe bestiegen und fortsegelten, während andere zurückblieben und in den Bäumen schliefen – ihre Kinder in Aussteuertruhen beisetzten – im Regen saßen und sämtliche Äpfel erbten.
Hätte sich einer das vorstellen können?, fragte sie sich. Dass man mich hier mit dem Obstgarten zurücklässt – mir die Schlüssel zur Weisheit reicht – und sagt…
Ertrinke!
Es machte sie nachdenklich – und sie sackte ein wenig in sich zusammen.
Nun, noch bin ich nicht ertrunken. Noch bin ich hier, am Leben. Immer noch ich – und, tatsächlich, noch mehr ich selbst als zu der Zeit, bevor das alles angefangen hat.
»Hörst du?«, sagte sie und schaute zur Arche hinauf. »Ich bin endlich ich, und zwar ganz. Ob es dir passt oder nicht.«
Nicht wahr, Lotte.
Mrs Noyes sackte jetzt ganz zusammen, ihre Hände drückten auf den unter ihr befindlichen Deckel.
Um ihren Hals schmiegten sich Bänder und in ihrer Hand war ein Apfel – der Apfel war zur Hälfte verspeist, die Bänder – in jeglicher Farbe – verschmolzen mit ihren bunten Tüchern und Schürzen. Mrs Noyes sah aus wie ein wandelnder Flohmarkt: Die Streifen ihres Unterrocks und die Bänder, Stofffetzen, Seile und Schärpen hingen vorne und hinten herab; all ihre Taschen und baumelnden Beutel waren voll gestopft mit Schnurresten, Krügen voll Knöpfen, Spitzenhäubchen und
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