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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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die Raben versucht hatten, an ihr Fleisch zu gelangen.
    Mrs Noyes kniete im Schlamm und in der Asche nieder und deckte Lottes Körper mit dem eigenen zu.
    Sie sprach nicht. Es gab nichts zu sagen.
    Sie wagte kaum anzuschauen, was sie gefunden hatte, aber sie wusste, es würde ihr nicht erspart bleiben. Als sie die Leiche umdrehte, um sie in die Arme zu nehmen, sah sie, dass Lotte keine Augen hatte.
    Mrs Noyes erstarrte.
    Dann stand sie auf und trug das tote Kind – unter ihrem Kopftuch – fort. Als die Vögel herunterstürzten, um sie sich zu holen, ging sie einfach weiter; wie betäubt versetzte sie den Ratten Fußtritte und stapfte über die Rinder. Sie ging zur Veranda und durch das Wohnzimmer, am stummen Klavier vorbei zur Küche – wo sie Lotte endlich auf dem Erntetisch ausbreitete, sich neben sie setzte und weinte.
     
     
    Mrs Noyes ging nach oben und schleppte ihre Aussteuertruhe – holterdiepolter – die Treppe hinunter und über die rauen Schieferplatten des Flurs. In der Küche holte sie alle Bahnen holländischen Brokats und chinesischer Seide und ägyptischer Baumwolle heraus. Mrs Noyes hatte das alles niemals benutzt. Es sollte dann einmal ihren Töchtern gehören, die alle gestorben waren, und dann den Schwiegertöchtern – den Enkelinnen – den Urenkelinnen. Nun. So weit war es nicht gekommen. Während einer seiner fundamentalistischen Säuberungsaktionen hatte Noah angeordnet, dass alles, was nicht weiß oder schwarz, braun oder grau war, sündhaft sei, und so wurde die ganze Sammlung von Brokat, Seide und Leinen weggeräumt.
    Auch Krüge mit Knöpfen – Schachteln mit Schnallen – lange seidene Hüllen mit Bändern – kostbare Papierpäckchen mit Nadeln – Spulen mit Garn und Karten voller Metallhaken für Rückenteile von Kleidern waren in der Truhe.
    Mrs Noyes betastete all diese Dinge – nippte am Gin – und fragte sich, warum sie alle unbenutzt verkümmerten. Sie waren zwar unwichtig – hatten nur mit den Träumen zu tun, die umsonst geträumt worden waren – vor zehntausend Jahren, als sie selbst ein Kind – ein Mädchen – eine Braut war. Von Fenstern mit Vorhängen geträumt hatte und von langen weichen Kleidern und von Hüten, deren Bänder auf ihren Rücken herabhingen, und von Stühlen mit Sitzflächen aus Brokat und von Samtkissen…
    Sie lachte auf.
    Eine Arche staffierte man nicht mit holländischem Brokat aus.
    Nun gut. Sie warf alles durcheinander auf den Boden und ignorierte es.
    Außer den Nadeln. Außer dem Garn. Außer den Knöpfen.
     
     
    Mrs Noyes wickelte Lotte, ihre Affenarme über dem Herzen gefaltet, fest mit den langen dünnen Unterrockstreifen ein, die von ihren Obstgartenfäustlingen übrig geblieben waren. Den Kopf mit dem herunterhängenden Unterkiefer und seinem wunderbaren unerschütterlichen Grinsen ließ sie frei. Sogar im Tode lächelte Lotte. Und dieses Lächeln war fast eine Art Rache. Wenn nur Doktor Noyes sie jetzt sehen könnte! Ich bin ein Affe – aber ich hatte eine menschliche Mutter und ich hatte einen menschlichen Vater, sagte das Lächeln. Ich wurde geliebt – ich wurde umsorgt – ich wurde in menschlichen Armen gehalten.
    Mrs Noyes verfluchte sich insgeheim, weil sie schwächer gewesen war als Lottes Eltern. Nun gut. Jetzt würde sie für diese Schwäche geradestehen. Lotte würde wie ein Mensch begraben werden.
    Sie schloss die Lider über den leeren Augenhöhlen, drückte Messingknöpfe an die Stelle, wo in dem schwarzen Gesicht einst die tief liegenden Augen waren, und nachdem sie das Kind auf die Lippen geküsst hatte, als wolle sie ihm damit versichern, dass ihr Vorhaben keinen Schmerz verursachen würde, nähte sie die Wunde am Hals zu und befestigte dort, wo der blutgetränkte Kragen war, ein leuchtend blaues Band.
    Als das alles getan war, faltete sie aus vielen Lagen Brokat ein Kissen, legte es in ihre Aussteuertruhe, hob Lotte auf, legte sie hinein und umgab sie mit all der chinesischen Seide und all dem ägyptischen Leinen – verabschiedete sich von ihr – und machte den Deckel zu.
    »Jetzt kann dich keiner mehr kriegen«, sagte sie. »Sie hätten gar keine Chance.«
    Danach schleppte Mrs Noyes die Aussteuertruhe wieder durch den Gang und durch den mächtigen eichenen Türrahmen, wo sie sie als Barrikade mitten im Eingang stehen ließ – ein Zeichen gegen die herannahende Flut.
    »Jetzt habe ich einen anständigen Drink verdient«, sagte sie, setzte sich auf die Truhe und machte ihren letzten Ginkrug

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