Die letzte Flut
Zeit«, »Der Winter ist vergangen, ich seh des Maien Schein«, »Es waren zwei Königskinder«, »Der Mond ist aufgegangen«, »All mein Gedanken, die ich hob«, »Wahre Freundschaft soll nicht wanken«, »Wir hatten gebauet ein stattliches Haus«, »Sah ein Knab ein Röslein stehn« und »Es blies ein Jäger wohl in sein Horn«. Immer weiter spielte sie… nippte dabei an ihrem Gin… sie brach geradezu in Gesang aus, auch wenn ihre Stimme so dürftig war, dass es zum »Ausbrechen« nicht reichte, sie war nur noch der klägliche Überrest von dem, was man früher als Kreuzung zwischen einem schwebenden Sopran und einem schwankenden Alt bezeichnen konnte. »Ade zur guten Nacht«, »Weiß mir ein Blümlein blaue«, »Ach, wie ists möglich dann« und »Wach auf, meins Herzens Schöne«.
Zum Schluss spielte sie wie immer das, was Ham einst ihre »Lieblingslieblinge« genannt hatte – die drei Lieder, die ihren Kopf – ihre Stimme – ihren Rücken – das Klavier und die Klavierbank, die Ginkrüge, Mottyl und alles – unweigerlich aufrichteten, bis das ganze Haus vor Schwingungen und Widerhall zitterte. Diese drei Lieder waren: »Lang, lang ists her«, »Es tagt, der Sonne Morgenstrahl« und der schwungvolle, pochende Ruf: »Die heilige Stadt«.
Jerusalem.
Sie war fertig. Es war vorbei.
Sie nahm den Fuß vom Pedal – und der letzte Akkord hallte noch im Raum – als wollte das Klavier alleine weitersingen.
Dann der Gin und die Stille und ein Donnerschlag.
Keine Musik mehr: nie mehr.
Mrs Noyes stand auf – vom Widerhall der Lieder in ihrem Kopf ganz schwindelig – vor Hunger sehr geschwächt – vom Gin taumelnd. Sie tanzte, torkelte durchs Wohnzimmer, fiel fast durch die Tür zur Veranda, wo sie am Türrahmen zusammensackte und Lotte zuflüsterte: »Das war’s. Mehr Lieder gibt es nicht…«
Aber Lotte hatte sie nicht gehört.
Ob tot oder lebendig, sie war weg.
Der Schaukelstuhl war leer.
Einen verrückten Augenblick lang fing Mrs Noyes an, nach ihr zu rufen.
»Lotte? Lotte?…«
Nicht auf der Veranda und nicht im Wohnzimmer. Nicht in der Küche – nicht in der Speisekammer. Wo – wo – wo?
O Lotte, was habe ich getan?
Mrs Noyes ging zur Veranda zurück. Sie war hier. Sie war genau hier, genau da. Im Schaukelstuhl.
Bleib ruhig!
Noch etwas Gin.
Mrs Noyes warf den Kopf in den Nacken und trank, bis der Gin ihr aus den Mundwinkeln und das Kinn hinunterfloss, und als sie den Kopf nach vorn neigte, um das Verschüttete aufzufangen, fing sie mit den Augen auch den Himmel ein.
Raben.
Jehova!
Mitsamt dem Ginkrug rannte Mrs Noyes los; an jedem Nagel und jedem vorstehenden Teil, den die Veranda und die dazwischen stehenden Bäume und Zäune und Himbeerstauden aufwiesen, zerriss sie ihre Tücher und Röcke und Schürzen. Es schüttete jetzt und der Regen war so heiß, dass er beim Aufschlag auf den Boden zischte, und all die Geier – all die Raben – all die Bandikutratten dampften, während sie die verkohlten Reste der Rinder, Schafe und Ziegen in Stücke rissen.
»Verschwindet! Haut ab! Verdrückt euch!«
Mrs Noyes sauste zwischen die Aasfresser, schlug mit den Armen und verschüttete ihren Gin, schwenkte ihre Tücher über dem Kopf.
»Weg mit euch! Weg mit euch! WEG!«
Sie war außer sich, und obwohl sie Lotte nicht gesehen hatte, fürchtete sie – mit einer entsetzlichen, widerlichen
Sicherheit –, dass sie sie dort unter den anderen Leichen finden würde.
Es war leichter, die Geier zu vertreiben als die Raben, die einfach zur Seite hüpften – und die Ratten huschten vor ihr weg, sie konnte sie nicht erreichen – zuerst rannten sie auf allen vieren, dann blieben sie neben einem halb verbrannten, halb verzehrten Kadaver stehen und stopften die Backentaschen mit Fleisch und den Mund mit Innereien voll. Dieser Anblick versetzte Mrs Noyes in eine solche Wut, dass sie sich bückte und Steine, Kiesel, Felsbrocken – was sie auch erwischte – aufhob und sie nach den Raben und Ratten warf. Sie spuckte sie sogar an – und wenn sie nahe genug kam, verpasste sie ihnen einen Fußtritt.
»Haut ab!«
Einmal stolperte sie über einen Kuhkadaver, reichte hinunter, entriss dem Rückgrat eine Rippe und fing an, damit herumzufuchteln.
Dann entdeckte sie sie.
Genauer gesagt, entdeckte sie ihr Kleid mit dem Band.
Lotte lag mit dem Gesicht nach unten zwischen den Schafen; ihre langen pelzigen Arme waren auf beiden Seiten weit ausgebreitet, ihr Kleid zeigte unzählige Löcher, wo
Weitere Kostenlose Bücher